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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Keener
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Steintreppen hoch. Nach dem hellen Licht im Hof blendete mich jetzt der dunkle Gang. Ich setzte jeden Schritt an ihrer Seite bloß nach Gefühl.
    Nach dem Unterricht gingen Sophie und ich zusammenzur Chorprobe ins Auditorium. Wir standen auf einer Bühne mit unterschiedlich hohen Podeststufen. Der Musiklehrer, Mr Edward, hatte für einen Mann zarte Hände und einen sehr hellen Teint. Selbst die kahle Stelle auf seinem Kopf erstrahlte im Licht kerzenweiß.
    Â«Hört bitte her.» Er schlug mit dem Dirigentenstab gegen einen Notenständer aus Metall. Der Stab war ein langer, weißer Plastikstock.
    Â«Ich möchte das ganze Stück einmal durchsingen. Wenn ihr Fehler macht, singt einfach weiter.» Er wedelte mit den knorrigen Armen in der Luft.
    Â«Eins, zwei, drei und –»
    Ich sang zweiten Sopran, die Reihe unter mir ersten Sopran. Sophie stand in der Reihe über mir. Sie sang ersten Sopran, und ihre Stimme, das war so wie mit ihren Haaren, hatte einen feinen, leichten Klang.
    Wenn Mr Edward uns ermutigen wollte, lauter zu singen, tat er so, als würde er Konfetti in die Luft schmeißen, oder er tätschelte sanft die Luft, wenn wir leiser werden sollten.
    Â«Weiter, weiter!», sagte er und schaufelte noch mehr Luft. «Jetzt nicht nachlassen», rief er.
    Anders als Mr Giles, dessen Stimme oft gar keinen Klang hatte, oder Mr Bingham, der übertrieben sprach und scheppernde Töne in jede Silbe und jedes Wort blies, hatte Mr Edwards Stimme einen reinen Klang, wie eine einzige klingende Gitarrensaite.
    Heute verteilte er neue Noten für das Thanksgiving-Programm im November. «To Dream the Impossible Dream» von Man of La Mancha war ein Stück aus dem Programm, außerdem ein Lied mit dem Titel «Everything’sComing Up Roses» von Gypsy. Um halb vier ertönte die Glocke und verkündete das Ende des Schultags.
    Draußen sauste der Wind zwischen meinen Knien hindurch und roch nach überreifen Äpfeln. Sophies Mutter wartete am Straßenrand in einem dunkelgrünen Cadillac auf sie, um sie zum Ballettunterricht zu fahren.
    Â«Bis morgen», sagte Sophie und rannte zum Auto.
    Mit meinen Büchern auf dem Arm, einem schweren Stapel, machte ich mich auf den Heimweg. Ich trug mein Mathe- und Biologielehrbuch, drei Spiralblöcke, mein Französischbuch; ganz oben auf lag eine kleine Taschenbuchausgabe von
Hamlet.
Als ich einen Maschendrahtzaun außerhalb des offiziellen Schulgeländes entlanglief, kam ich an einer Gruppe selbstbewusster italienischer Jungen und Mädchen vorbei, die rauchten. Die Jungen trugen alle enge schwarze Hosen und spitze schwarze Schuhe. Zwei der Mädchen trugen weinrote Leichtathletikjacken mit Reißverschluss und großen Seitentaschen. Eine von ihnen erkannte ich vom Kampf in der Cafeteria wieder. Sie schnippte eine brennende Zigarette in meine Richtung, als ich an ihr vorbeiging. Sie traf meinen Schuh.
    Â«Judensau.»
    Fassungslos beschleunigte ich meinen Schritt. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen, geschockt, verängstigt, wütend überquerte ich die Straße, beeilte mich, von ihnen wegzukommen und behielt das Tempo bei, bis ich am Anfang des Soquaset-Platzes ankam. Ich hatte noch nie hautnah Antisemitismus erfahren. Ich konnte nicht fassen, dass es das gab. Meine Nachbarn waren Juden. Sophie war Jüdin.
    Die vertrauten Häuserfassaden beruhigten mich, und ich ging langsamer. Ich kannte die Läden wie alte Freunde: die Eisenwarenhandlung, den Musikladen mit den Reihen der 40-Hit-Singles, der einem kahl werdenden Mann gehörte. Die Trockner rochen nach Mottenkugeln und spieen heiße Dunstwolken auf den Bürgersteig.
    Ich schaute hinter mich. Auch weiterhin keiner vom Maschendrahtzaun in Sicht. Vorn an der Ecke lag schon die nach Kaugummi duftende Apotheke, die Mutter mit den Tabletten für ihren Rücken versorgte, die dann einmal im Monat ein Highschool-Junge vorbeibrachte. Die Tabletten wurden in einer weißen Papiertüte geliefert, die wie feines Leinentuch gefaltet war. Der Rest des Häuserblocks neben der Apotheke wurde von einem Five & Dime eingenommen. Ich schaute wieder hinter mich, sah aber niemanden, der mir folgte. Ich schlüpfte in den großen Discounter. War in Sicherheit.
    Wie gut ich doch die Gänge dieses Discountladens kannte, die sich in einer chaotischen Anordnung ausbreiteten. Der grün gesprenkelte Linoleumboden war trüb und voller Flecken. Die

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