Schwimmen in der Nacht
die Ringe unter ihren Augen lagen grünliche Schatten.
«Der Herbst kommt», sagte sie. «Als ich ein Kind war, wollte ich â»
Sie lehnte sich an den Schreibtisch und schlug die Ãrmel ihrer Bluse um, was ihre dünnen Handgelenke enthüllte.
«Wolltest du was?», fragte ich und stützte mich auf den Ellbogen.
«Liebes», sagte sie, kam wieder zu mir und setzte sich auf das Bettende. «Meine Mutter hat mich immer Liebes genannt, schön, nicht wahr?» Sie deckte mich zu. «Sie hat immer geglaubt, aus mir würde etwas Besonderes werden, ein Star. Deinen Vater konnte sie von Anfang an nicht leiden. Ich glaube, sie hatte Angst vor ihm.»
«Mutter», sagte ich, drehte mich zur Seite und zog mir die Decke fest bis unters Kinn. «Hör auf damit. Du klingst so seltsam.»
Sie sah mich blinzelnd an. Der Lippenstift war abgeleckt, man sah nur noch die Umrandung.
«Schlaf tief und fest, mein Liebling.» Sie berührte kurz meine Schulter und ging über den Flur zu ihrem Schlafzimmer.
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In den folgenden Wochen entschuldigte sie sich immer wieder für den Unfall, war aber kühl, und kaum war der Verband an ihrer Nase entfernt, wurde sie wieder sehr dürr, weil sie sich mit ihren Rosen beschäftigt hielt und neue Tabletten einnahm, um schlafen zu können.
Sie bestellte einen speziell angefertigten Cadillac, der dem von Tante Annette glich, und als sie ihn nach Hause fuhr und in der Einfahrt parkte, stellte sich heraus, dass er zu lang und zu breit für die Garage war. Sie sah klein aus hinterm Steuer, verletzlich, fand ich.
«Der ist so groà wie ein Panzer», sagte Vater zu ihr.
«Ja. Genau das will ich. Schutz.»
Als das neue Auto da war, erwähnte keiner mehr den Unfall, so als hätten wir alle ein unausgesprochenes Schweigeabkommen getroffen; und ich wusste nicht, was ich sonst zu ihr hätte sagen sollen. Sie hatte mich schon verlassen. Was sagt man zu einem Menschen, den man verloren hat?
Die Antwort darauf wurde von einer anderen dringenden Angelegenheit überlagert: einem historischen Hafenarbeiterstreik in Boston, der dem Familienunternehmen das Genick brach. GroÃvater erlitt nach nur wenigen Tagen einen schweren Herzinfarkt. Er sackte im obersten Stockwerk seines Wohnhauses am Küchentisch zusammen, von wo aus er einen Blick auf den Hafen von Bosten gehabt hatte. Mit seinen einundneunzig Jahren war an Wiederbelebung nicht zu denken.
Aber ich weià noch, wie er mich einmal fest im Arm gehalten hat. Er hat nie hastig gesprochen. In seinerStimme schwang dieses Fürimmer mit.
Licht, Sarah. Schau nur.
Er zeigte auf das Flurlicht vor meiner Zimmertür, die Laute aus seinem Mund platzten wie Seifenblasen in meinen Ohren. Die Deckenlampe, die wie eine Untertasse aussah, leuchtete. Er trug mich in meinem Zimmer ans Fenster und zeigte auf den Mond.
Licht,
sagte er noch einmal, damit ich verstand, dass der Mond auch in mein Haus kam.
Ein so plötzlicher Tod in diesem Alter erschien mir wie ein Segen.
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Interludium
Als ich schon im Bett liege und halb eingeschlafen bin, piept das Handy auf dem Nachttisch von einer SMS. Alan schreibt:
Flug gestrichen. Schwere Schneefälle. Fahr ins Hotel. Ruf dich an, wenn ich eingecheckt habe. Ich liebe dich.
Ich liebe dich noch mehr, schreibe ich zurück, erleichtert, dass es meinem Mann gut geht, aber auch besorgt, dass er so schnell zurückkommen will, damit er morgen Abend bei meinem Auftritt dabei sein kann. Das braucht er nicht, also rufe ich ihn an.
«Wie viel Schnee liegt denn?»
«Zehn Zentimeter. Es soll bald aufhören.» Von zu viel Kaffee und langen Sitzungen, denn genau daraus bestehen diese Geschäftsreisen, zu denen er fährt, klingt seine Stimme tiefer als sonst
«Versprich mir, dass du wartest, bis das Wetter sich gebessert hat. Es ist nicht schlimm, wenn du nicht dabei bist.»
«Ich weiÃ. Mach dir keine Sorgen. Ich versprech es dir. Und jetzt versuch zu schlafen. Ich muss los. Der Bus ist da. Ich rufe dich an, sobald ich was Neues weiÃ.»
Ein kurzer Blick aus meinem Schlafzimmerfenster, ein rosafarbener Klecks blutet in den östlichen Himmel. Das Tageslicht hilft mir, gedanklich zur Ruhe zu kommen. Alan geht es gut.
Ich komme langsam wieder zu mir. Ein neuer Morgen bricht an. Der dritte Tag des Lichterfestes. Ich mag dieses spezielle jüdische Fest, diesen Beweis für Wunder.
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