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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Keener
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Treppen an den Seiten wanden sich spiralförmig einen schmalen Gang hinauf. Ich war auf die Mädchentoilette gegangen, um den Lippenstift neu aufzutragen, nun fast schon wieder zu spät, so dass der Korridor fast leergefegt war, als er am anderen Ende auftauchte; die blonden Haare nach hinten gekämmt, die wirkten, als wären sie nass. Er musste gerade vom Sport gekommen sein. Anthony kam auf mich zu. Ich konnte ihm nicht ausweichen.
    Â«Was machst du hier?», fragte er. Er roch nach frischem
Zigarettenrauch und English-Leather-Parfum. Ich atmete den Duft ein und wollte mehr davon.
    Ich zeigte auf den Kunstraum am Ende vom Gang.
    Â«Bist du mit einem Jungen zusammen?»
    Â«Bist du mit einem Mädchen zusammen?»
    Â«Vielleicht mit dir.»
    Er berührte meine Lippen und ging weiter. Ich drehte mich um und schaute ihm nach. Er zog die Schultern nach oben, schlenderte aber mit dem angeborenen Selbstvertrauen eines Football-Stars den Flur entlang.
    Â«Er mag dich», sagte Margaret während der Anwesenheitskontrolle am Morgen zu mir. «Ich will, dass ihr beide nach der Schule zu mir kommt.»
    ~~~~~~~~~~~
    Wieder Vaters durchdringendes Aufstöhnen. Tante Annette streckte die Hand aus und berührte ihn am Arm. Dabei passierte sie meinen Schoß. Ihre Finger waren lang und rundlich und liefen auf spitze Nägel zu, die in hellem Pink schimmerten. Obwohl sie größer war als die meisten anderen Frauen und übergewichtig, besaß sie doch eine raffinierte Feinheit. Ich fragte mich, wie es gewesen wäre, sie als Mutter zu haben.
    Dann fiel mir Onkel Max wieder ein. Er saß ganz vorn, hinter dem Podium, hielt das Programm und drehte es hin und her. Tante Annette faltete die ganze Zeit über eine kleine, weiße Serviette zusammen. Alle erhoben sich. Onkel Max trat ans Podium und sprach von Mutter als kleines Mädchen.
    Â«Sarah, Peter», sagte er und beugte sich über das Podiumnach vorn. «Eure Mutter hatte eine musikalische Begabung, die sie an euch weitergegeben hat. Haltet sie in Ehren.» Er sprach über ihre Liebe zum Gärtnern und ihr künstlerisches Feingefühl. Dann drehte er sich zum Sarg. «Irene, du wirst immer meine kleine Schwester bleiben –» Seine Stimme überschlug sich und brach. Er setzte sich wieder auf den Stuhl und vergrub das Gesicht in den Händen.
    Die Orgel setzte erneut ein, eine weitere jämmerliche Darbietung. Blecherne, unsaubere Töne, die eine Beleidigung für meine Mutter waren, für meine musikalische Mutter und ihre Erwartungen. Ich hasste diesen überfüllten Raum. Die Leute nickten und murmelten die Worte. Die Leute gehorchten.
    Dann erhoben sich alle, und sechs Männer, unter ihnen auch Onkel Max, nicht aber Vater, betraten die Bühne und verteilten sich gleichmäßig um Mutters Sarg. Der Rabbi nickte. Die Männer hoben den Sarg an und stiegen die drei Stufen zum Mittelgang hinunter. Als sie durch den Raum zum Hinterausgang schritten, folgte ihnen eine Woge aus Schluchzen und Murmeln. Jemand vom Bestattungsunternehmen beugte sich zu mir herüber und sagte, ich könne jetzt zurück in den kleinen Raum gehen, der für die Familie der Verstorbenen reserviert sei. Er trug einen Rubin am Mittelfinger, und auf seinem braunen Haarschopf saß eine schwarze Kippa. Meine Tante kam zu mir und führte mich hinaus.
    Im Leichenwagen saß ich zusammen mit meinen Brüdern, Vater, Tante Annette und Onkel Max. Vier Polizisten auf Motorrädern eskortierten uns in der Stadt über die Kreuzungen und weiter die Straße zum Highway entlang.
    Vater zerknüllte das Taschentuch in seiner Hand, starrte auf einen Punkt auf seinem Knie und schüttelte den Kopf. Peter schaute aus dem Fenster. Ich stellte mir vor, Mutter säße vorn, nach Parfüm duftend und unbekümmert redend, als ob der nächste Ausflug der wäre, der uns von unserem Leid befreite und den Kummer verjagte, der unser Leben verwüstete. Ich steckte tief in meiner Kapsel, hatte nichts zu sagen, und ich sah, dass es Robert, der neben Elliot saß, genauso ging. Er zog an einer Bügelfalte in seiner Hose, als hätte man ihn aus Versehen in dieses Auto gesetzt, und als würde er darauf warten, dass es jemand mitbekam und ihn von hier wegbrachte. Er drehte den Kopf zum Fenster und schaute zu den Polizisten, während Elliot neben mir meine Hand nahm und weinte. Tante Annette gab ihm ein Taschentuch. Ich

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