Schwimmen in der Nacht
zurückkamen, flackerten die Deckenleuchten. Die Menge drängte zum zweiten Teil des Wiener Sängerknaben-Konzerts in die Jordan Hall, der marmorne Treppenaufgang war wieder leer.
«Das ist irrsinnig», sagte Peter.
Es war eine Stunde vergangen, seit Mutter uns am StraÃenrand rausgelassen hatte. Hinter den gepolsterten Türen der Jordan Hall schwoll der Chorgesang an undebbte wieder ab, wie Unterwasserströmungen. Peter ging noch einmal zur Telefonkabine und rief wieder zu Hause an. Es nahm keiner ab.
«Irgendwas stimmt nicht», sagte er und schob die Falttür auf, den Telefonhörer noch immer in der Hand. Sein Gesicht war schweiÃbedeckt, die Haare klebten ihm in nassen Strähnen an der Stirn.
«Ich ruf jetzt die Polizei an.»
Er schob die Tür zu. Ich hörte, wie die Münze durch den Schlitz gedrückt wurde und einfiel. Jemand nahm ab. Peter nickte und gab mir ein Handzeichen. Er schaute zu mir, während er sprach, aber der Blick seiner scharfen blauen Augen ging durch mich hindurch. Seine Stimme war ausdruckslos. Er nickte wieder und legte den Hörer auf.
«Was haben sie gesagt?»
«Sie haben gemeint, eine Stunde wäre lang. Sie wollen das mal überprüfen.»
Er kam aus der Kabine und ging rüber zum Haupteingang, wo wir beide es gleichzeitig entdeckten: das Gesicht meines Vaters, so mitgenommen wie eine zertretene Einkaufstüte.
«Dad!»
Er änderte abrupt die Richtung, und seine Schultern schienen eine unsichtbare Last die Stufen hinaufzutragen.
«Eure Mutter ist im Krankenhaus. Holt eure Jacken.»
Die Schneekristalle hinterlieÃen einen glitzernden Heiligenschein auf seiner hohen Stirn. Ich kämpfte mich zum Konzertsaal zurück und war diesmal achtlos beim Ãffnen der Türen. Mrs Janson drehte sich nach dem Licht um. Sie muss einen Blick auf mein Gesicht erhaschthaben, denn sie hielt sich die Hand vor den Mund, aber das ist alles, was ich von diesem Tag noch von der Highschool-Freundin meiner Mutter in Erinnerung habe. Wir rannten wieder nach drauÃen.
Elliot und Robert saÃen wie zermalmt auf einer Seite der Rückbank. Ich stieg ein und setzte mich neben sie. Peter setzte sich nach vorne.
«Was ist passiert?», fragte Peter.
«Ihr ist ein Möbeltransporter ins Auto gefahren. Verflucht noch mal! Sie wissen es nicht.» Vater hämmerte auf das Armaturenbrett. Als die Ampel auf Rot schaltete, schaute er in beide Richtungen und fuhr drüber.
«Herrgott noch mal, Dad!», sagte Peter. «Du bringst uns noch alle um!»
«Wir müssen jetzt dringend zu eurer Mutter.» Vater riss das Lenkrad rum, sein Blick irrte einmal über die ganze StraÃe.
Ich erstarrte, aber nicht vor Kälte. Vater raste an der Symphony Hall vorbei. Ein streunender Hund, der in einem umgeschmissenen Mülleimer wühlte, trug einen schimmernden Schneeüberzug auf dem Rücken. Elliot wackelte unablässig mit seinen pummeligen Fingern, wie Insekten, die unter einem Stein in die Falle geraten sind. Robert hielt sein Buch ganz fest und las, angespannt und steif.
Ich betete, während wir zum Krankenhaus rasten. Vater hupte jedes Auto aus dem Weg. Ich betete, dass alles so bleiben sollte, wie es gewesen war, bis das haltlose Schimpfen meines Vaters nur noch gedämpft zu mir drang, und die grellen Lichter der Stadt zu Schatten wurden. Ich stellte mir vor, wie Justine allein im tiefen Wald sang, als ob nur Gott ihr zuhörte. Ich wollte, dass Gottjetzt mir zuhörte.
Bitte, bitte mach, dass alles mit ihr in Ordnung ist.
Vater nahm die Auffahrt zum Boston City Hospital und parkte vor dem Notausgang. «Bleibt im Auto», sagte er.
Er stieà die Tür auf und rannte hinein. Der Motor lief weiter und wärmte das Auto mit einem feuchten, ledrigen Geruch. Die Scheibenwischer gingen im Fünfsekundentakt und formten japanische Fächer.
«Ich geh rein», sagte Peter und öffnete die Tür.
Da stiegen wir alle aus.
Drinnen stieÃen wir auf Vater, der mit einer Krankenschwester hinter der Aufnahme stritt. Die Frau hatte eine Haarspange, die sie sich ins Haar steckte, als sie um den Tresen herumgelaufen kam. Sie war groà und dünn.
«Ich rufe die Polizei, wenn Sie mir nicht sagen, wo meine Frau ist.»
«Der Doktor wird gleich mit Ihnen reden â bitte warten Sie. Ich hole ihn.»
«Warten, worauf?», sagte er und lief ihr nach. «Wo ist meine Frau? Herrgott,
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