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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Keener
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verdammich, was für eine Scheiße!», schrie er.
    Ein Arzt kam den Flur entlang geeilt, und sein weißer Kittel flatterte. Er trug graue Socken und schwarze Schuhe mit Schnürsenkeln.
    Â«Mr Kunitz? Ich bin Dr. Greer. Gehen wir doch ins Wartezimmer. Das ist im Augenblick leer.»
    Der Arzt zeigte auf ein kleines Zimmer, das vom Flur abging.
    Â«Wie geht es ihr?», fragte Vater und packte den Arzt am Ellenbogen.
    Der Arzt schwieg einen Augenblick lang und schien abzuwägen. Langsam wandte er den Kopf. Sein Gesicht war lang und flach wie ein Klemmbrett.
    Â«Es tut mir leid –»
    Â«Was?»
    Er blickte Vater und den Rest von uns im Wartezimmer an. Ich hörte etwas von einem Schädel-Hirn-Trauma. Von einem gebrochenen Rückgrat. Tabletten. Der Pieper des Mannes pulsierte, und er stellte ihn aus. Eine andere Krankenschwester kam herein.
    Â«Sie ist im Aufwachraum», sagte sie.
    Â«Aufwachraum? Sie haben gesagt, sie ist – zum Teufel noch mal! Welcher ist es?» Vater näherte sich mit dem Gesicht dem des Arztes.
    Â«Es ist ein Raum, um Abschied zu nehmen, für Sie und Ihre Familie, wenn Sie sich dafür entscheiden sollten», sagte der Arzt und blickte kurz zu meinen Brüdern und mir hinüber. Aber es wurde gar keine Entscheidung getroffen. Vater raste hinaus, wir hasteten ihm hinterher zu der Tür, auf die der Arzt gezeigt hatte. Wir bewegten uns fort wie eine einzige menschliche Masse, schlängelten uns in einen Raum am anderen Ende des Flurs. Es roch nach Wundbenzin.
    Das Gesicht der Frau, die in einem Helm aus Verbänden steckte, der doppelt so groß war wie ihr Kopf, war geschwollen. Es hätte sie entsetzt, wie hässlich sie aussah. Das war nicht sie. Sie bewegte sich nicht. Still wie ein Zweig, den man von einem Baum gerissen hatte, lag sie da. Ich schwebte hinauf unter die Decke des Raumes und mir war schwindlig von der Höhe.
    Vater sackte über ihr zusammen, wimmerte undklagte und schrie. Elliot, mehr Fleisch als Knochen, sackte in einer Ecke zusammen. Ich hörte ihn aufstöhnen. Robert versteinerte. Peter stand zitternd am Fußende des Bettes. Der Raum zuckte, ein von Wehen ausgelöster Krampf, als würde Mutter uns wieder gebären, noch mal und noch mal presste sie uns wieder hinaus.
    Â«Seid still. Seid still. Sie kriegt das doch mit», hörte ich mich sagen. «Seid alle still.»
    In dem Augenblick kam Tante Annette herein. In ihren marineblauen Pumps war sie fast einen Meter zweiundachtzig groß und sah in ihrem blauen Kostüm aus wie vom Militär, dazu trug sie weiße Perlenohrringe, die Haare hatte sie am Hinterkopf streng zu einem Seemannsknoten zusammengebunden. «O Gott, Leonard. Die Kinder.» Meine Tante versuchte uns aufzulesen wie auf dem Boden verstreute Äpfel. Aber das war unmöglich. Die Bitterkeit des Lebens hatte alles zerstört, oder würde alles zerstören, wenn ich es zuließ. Mutter hatte gesagt, es gäbe keine Abkürzungen. Es war meine Aufgabe, mir das klarzumachen. Ganz gleich, welches Leben ich führen würde, zu welcher Größe ich es einmal schaffen wollte, es würde stundenlanges Üben erfordern, hatte sie gesagt. Jahrelanges. Ich drehte mich um. Meine Tante nahm mich am Arm und führte mich weg.

10. Kapitel
Bleib
    Mutter wurde fünf Tage nach dem Zusammenprall beerdigt. Die Erwachsenen bezeichneten ihren Tod als tragischen Unfall – wieder dieses Wort –, als ob sie nicht versucht hätte, uns zu verlassen. Aber sie hatte es endlich geschafft; die ganze Stadt wusste Bescheid. Tante Annette kam nicht darüber hinweg, dass ein Foto des Unfalls in einer Zeitung mit einer Auflage von einer halben Million abgedruckt worden war. Auf der Titelseite des Boston-Teils von
The Boston Globe
hieß es: Ein fünfundzwanzigjähriger Fahrer aus Kalifornien sei mit Frau und Kleinkind im Umzugswagen in die Stadt gefahren. Er habe noch nie Schnee gesehen und ganz sicher nicht gewusst, wie man bei Schnee fuhr. Sein U-Haul-Möbeltransporter sei ihr mit voller Wucht in die Seite gerammt.
    Â«Der Cadillac hat mitten auf der Straße gehalten», wurde eine Augenzeugin in dem Artikel zitiert. «Aber die Ampel zeigte grün.» Der Möbelwagen war über die Kreuzung gerast, hatte nicht rechtzeitig bremsen können und war in sie hineingeschlittert. Bewusstlos, innere Verletzungen, Schädel-Hirn-Trauma, gebrochene Rippen; der Fahrer lag im

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