Schwimmen in der Nacht
wir waren auf dem Sprung zu Tante Annette und Onkel Max, um mit ihnen die Befreiung der Juden aus der ägyptischen Sklaverei zu feiern. «Moses ist auf dem Weg ins gelobte Land!», rief Vater aus der Küche. Er rang der Krawatte einen Knoten ab und lief hinaus. Die Tür knallte zu.
Der Schnee war geschmolzen, aber die Bäume hatten ihre grünen Fingerspitzen noch nicht ausgestreckt, um die Luft zu testen. Mutter nahm ihren Platz auf dem Beifahrersitz ein; in ihrem zartblauen Anzug und mit den braungrauen Schuhen sah sie schick aus. Der Wagen saugte ihr Parfüm und den wächsernen Geruch nach Lippenstift auf. Sie drehte sich prüfend zu uns um.
«Wie schön ihr ausseht», sagte sie zufrieden.
Meine Brüder, einschlieÃlich Peter, trugen dunkelblaue Blazer und dazu passende graue Hosen. Mutter bestand darauf, dass sie sich für den Sederabend so herausputzten, aber Peter rebellierte, indem er seinen Blazer aufknöpfte, der ihm auf einer Seite über die Schulter rutschte. Mein weinrotes Samtkleid zwängte mich in eine Form, die eher zu einem elfjährigen Mädchen gepasst hätte, als zu einem, das im nächsten Jahr zur Highschool gehen würde. Ich glaube, Mutter nahm weder meine zart wachsenden Brüste noch die gegen denKleidsaum drückenden Hüften wahr. Und wenn sie es doch tat, so wollte sie diesen Teil meiner Entwicklung vielleicht gern etwas verlangsamen, ganz wie beim Beschneiden von Rosensträuchern, was, wie sie sagte, die Rosen voller blühen lieÃ. Ich schlug die Beine übereinander und wackelte in meinen offenen Lederschuhen ungeduldig mit den Zehen.
«Betet lieber, dass Onkel Max die Sache nicht in die Länge zieht», sagte Peter.
Wir waren Gelegenheitsjuden. An den Hohen Feiertagen scheuchte Mutter uns in die Synagoge, während sie zu Hause blieb und in ihrer Schürze und den edlen Lederpumps Puddingkuchen mit SüÃkartoffeln backte. Neben ihr auf der Küchenablage stand dann ein halbvolles Glas Wasser griffbereit für die Einnahme ihrer Tabletten. «Geht mit eurem Vater mit», sagte sie.
Vater fuhr rückwärts aus der Einfahrt, und ich knallte nach hinten in den Sitz. Auf der kurzen Fahrt in den hügeligen Teil der Stadt, wo die Klines wohnten, kamen wir an älteren Häusern vorbei, die nicht so nah an der StraÃe gebaut worden waren. Das Haus der Klines, eine griechische Imitation mit riesigen weiÃen Säulen, tauchte am Ende eines langen hufeisenförmigen Zufahrtswegs auf.
An der Haustür wartete schon GroÃvater Joe auf uns. «Müssen wir immer auf Feiertage warten, um mal zusammenzukommen?», fragte er. Mit seinen fast neunzig litt er an Herzschwäche. Bekam er Herzschmerzen, entschuldigte er sich, verlieà das Zimmer und schluckte eine winzige weiÃe Tablette.
«Es wäre selbst dann nicht genug, wenn ich dich jedenTag sehen würde», sagte Mutter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
«Wie geht es meiner anderen Prinzessin?», fragte er und berührte mich sanft am Kinn.
Sein Gesicht war schmal, und er hatte es nicht eilig, wenn er sprach. Ich roch das Rasierwasser, das er immer benutzte: eine Mischung aus Zimt und Lindenholz. Seine Begleitung, eine Frau in den Siebzigern mit dem Namen Lilly, begrüÃte mich mit festem Händedruck. Dieses schnell sprechende Energiebündel wohnte in derselben Wohnanlage wie mein GroÃvater. Sie hatte goldbraun gefärbte Haare und war die Witwe eines seiner früheren Geschäftspartner. Ich entdeckte den Opalring meiner verstorbenen GroÃmutter an ihrem Finger. GroÃmutter war gestorben, als ich sechs Jahre alt war, aber ich kann mich noch immer an die Ringe erinnern, die sie getragen hat.
«Warum sehen wir uns eigentlich nicht öfter?», sagte Tante Annette, als wir das Haus betraten. «Es ist zu schade, dass wir nie die Zeit dafür finden.»
«Ihr seid hier die Weltenbummler», sagte Mutter mit einem Hauch von Neid in der Stimme. In Gegenwart der Klines schien ihre nach oben kletternde Stimmlage am stärksten ausgeprägt zu sein.
Wir wohnten zwar nicht weit voneinander entfernt, aber es gab keine Ãberschneidungen zwischen unserem Leben und dem der Klines. Ihre beiden Söhne, Kenneth und Edward, waren viel älter, längst fertig mit der Schule, gingen schon aufs College und waren schon lange aus dem Haus. Das Heim der Klines stand oft leer, weil meine Tante und mein Onkel viel
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