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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Keener
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verreisten.
    Â«Hallo, du Schöne», sagte Kenneth mit seiner lauten, klangvollen Stimme. Er war ein gutaussehender Riese, der mich hoch hob und durch das Foyer im Erdgeschoss wirbelte, bis der gelbe Diwan und die vergoldeten Bilderrahmen miteinander verschwammen. Kenneth war mein Alltagsheld. Er war kräftig, hatte gewellte braune Haare und haselnussbraune Augen und ging auf einem Schiff, das um die Welt segelte, aufs College. Er hatte an Orten weit hinter dem Horizont gelebt. Er wohnte in San Francisco, wo er laut Mutter «mit Lederwaren bei diesen Hippie-Boutiquen hausieren ging». Ich fand Kenneth attraktiv und ein bisschen gefährlich.
    Â«Selber hallo», sagte ich, als er mich absetzte.
    Â«Da bist du ja, Großer», sagte er und legte den Arm um Peter. Die beiden spazierten ins Wohnzimmer und setzten sich auf das Sofa am Kamin.
    Unser Cousin Edward, der ältere und reserviertere, arbeitete als Anwalt in Boston. Er nickte mir zu, unterhielt sich aber viel lieber mit den Erwachsenen.
    ~~~~~~~~~~~
    Der Mahagoniesstisch der Klines, der zweimal so lang war wie unserer, hatte einen doppelten Satz Krallenfüße und dazu passende Stühle mit geschnitzten Holzlehnen. Mutter spielte mit einer Leinenserviette. «Seht euch nur diesen Tisch an. Einfach hinreißend. Und von wo hast du die hier noch mal mitgebracht? Von eurer Englandreise?» Sie nahm ein Kristallglas und hielt es ins Licht. «Erlesen, Annette.»
    Â«Ja. Ein Händler hat das Set für uns aufgetrieben.»
    Weit hinten am Ende der Sedertafel setzte Onkel Max ein gelehrtes, halbverschlafenes Gesicht auf, als Vater und er eintönig lange hebräische Passagen vorlasen. Alle paar Seiten sah Onkel Max mich an und starrte mir auf den Ausschnitt. Ich schaute angestrengt auf mein Kleid, sah nach, ob ich mich bekleckert hatte.
    Als es so weit war, die Plagen zu nennen, tauchte ich den kleinen Finger in mein Saftglas und betupfte damit den sauberen weißen Porzellanteller vor mir. Die Tropfen flossen zu einem kleinen blutigen See zusammen.
    Dam
(Blut)!
    Tz’Farday’A
(Frösche)!
    Kinim
(Stechmücken)!
    Arov
(Ungeziefer)!
    Dever
(Viehpest)!
    Sh’Chin
(Schwarze Blattern)!
    Barad
(Hagel)!
    Arheh
(Heuschrecken)!
    Cho-Shech
(Finsternis)!
    Makat B’Chorot
(Tod aller Erstgeborenen)!
    Â«Tod aller Erstgeborenen?», fragte ich. «Das verstehe ich nicht.»
    Ich schmierte den Traubensaft an meiner weißen Leinenserviette ab.
    Â«Du musst es nicht verstehen. Es ist eine Tradition», sagte Mutter. Sie ließ die linke Hand unter dem Tisch und schob ihr Weinglas zu Vater rüber. Er füllte es bis zum Rand.
    Â«Das ist keine Tradition, das ist Mord», sagte Peter.«Töten wir die Erstgeborenen, bringen wir Kinder um. Zetteln wir ein ‹My Lai Massaker› an.
One two three four, what are we fighting for?
Er stimmte den
Country Joe and the Fish
Song an, der in Woodstock gesungen worden war.
    Â«Peter. Stopp. Das reicht», sagte Mutter. «Das habe ich natürlich nicht gemeint. Ich rede von – gemeinsamen Essen, davon, jedes Jahr mit der Familie zusammenzukommen.» Sie hob das Kinn an. «Ich glaube, diese Dinge sind wichtig.»
    Â«Veränderung ist besser.»
    Â«Das sagst du, weil du jung bist, mein Liebling.»
    Â«Seit wann bist du alt, Irene?», fragte Vater.
    Â«Alt? Wovon redet ihr?», sagte Opa. «Sie ist perfekt.»
    Â«Perfektion ist ein unmögliches Unterfangen», sagte Vater. «Oder siehst du das anders, Irene?»
    Â«Lass gut sein! Wir wollen kein Seminar daraus machen», sagte Mutter. «Genießen wir das Zusammensein.» Sie lächelte mir zu, aber ich sah ein Flimmern in ihren Augen, als wäre ein kleines Tierchen geflüchtet. Wovor?
    Wo-vor,
Mutter? Sag.
    Diese Fragen rumorten in meinem Bauch, während ich Matzeknödel-Suppe aß. Ich war ein dünner Mensch mit dem Appetit eines dicken. Ich aß Gefilte Fisch, zwei Stücke Hähnchenbrust, mehrere Portionen Nudelpudding und kandierte Möhren. Die irische Hausangestellte der Klines, eine gebückte Frau Mitte sechzig, räumte im Handumdrehen unsere dreckigen Teller ab. «Hattest du genug, Liebes?» Wir ließen den Sederabend mit Unmengen traditioneller Lieder ausklingen.
    Â«When Israel was in Egypt Land,
    Let my People go!
    Oppressed so hard they could not stand,
    Let my people go!»
    Elliot und Robert gingen danach ins Fernsehzimmer. Kenneth und

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