Schwimmen mit Elefanten - Roman
Schachspieler. Ich hätte ihn an jenem Abend nicht gehen lassen sollen, denn zum Schwimmen war es schon viel zu kalt. Aber ich tat es nicht. Auch wenn man glaubt, man habe nur einen unbedeutenden Fehler begangen, man kann nichts rückgängig machen. Schach ist gnadenlos.«
Er leckte sich die Krümel vom Zeigefinger. Die Sonne stand bereits tief und das Abendlicht tönte die Scheiben. Pawn hielt den Kopf gesenkt und fraß genüsslich seine getrockneten Fische. Der Mann und das Kind saßen still da und lauschten dem Schmatzen, das kaum hörbar aus dem kleinen Maul drang.
Es war das erste Mal gewesen, dass der Junge mit Schach in Berührung kam. Der dicke Mann besaß weder einen Meistertitel, der ihm von der Schachvereinigung verliehen worden war, noch nahm er an internationalen Turnieren teil. Er spielte einfach nur gerne Schach. Aber er hatte intuitiv die Bedeutung des Spiels erfasst. Für ihn ging es nie darum, den König des Gegners in die Enge zu treiben, sondern die Schönheit des Spiels zu genießen. Denn die Gabe, in einzelnen Schachzügen die Klangfarbe einer Violine zu erkennen oder das Spektrum des Regenbogens oder eine Philosophie, die kein noch so genialer Kopf mit Worten beschreiben kann, ist etwas anderes, als bloß eine Partie zu gewinnen. Und der dicke Mann verfügte über diese Gabe. Er gehörte nicht zu der Sorte von Spielern, die ihre Gegner unbedingt besiegen wollen. Er suchte vielmehr ein Leuchten in deren Zügen, eine Harmonie, die sie miteinander teilen konnten. Daher erkannte er auch sofort, wie begabt der Junge war. Nachdem sein junger Kollege ertrunken war, erschien ihm das unverhofft in seinen Bus geratene Kind wie ein Meteor, der zufällig vom Himmel gefallen war. Er war noch klein und sein Leuchten war so schwach, dass man es gar nicht wahrnahm. Aber der Mann führte den Jungen auf den Ozean des Schachs hinaus, wo er ihn lehrte, nur sich selbst zu vertrauen und eigene Spuren zu hinterlassen, ohne dabei vor Abgründen und gefährlichen Strömungen zurückzuweichen.
Nach ihrer ersten Begegnung war es für den Jungen ganz selbstverständlich, den Busfahrer mit »Meister« anzureden, denn er war für ihn Lehrer und Mentor zugleich. Natürlich spielte der Junge später auch gegen andere Gegner Schach und sammelte dabei wichtige Erfahrungen. Aber alles, was man über Schach wissen muss, hatte er in diesem ausrangierten Bus gelernt. Hier lagen seine Wurzeln.
3
Anfangs, als der Junge die Spielregeln lernte, faszinierte ihn vor allem die Form des Schachbretts. Das des Meisters war nicht besonders groß, aber ein sehr seltenes Exemplar, das zugleich als Beistelltisch diente. In der Mitte waren die schwarzen und weißen Felder als Intarsien eingelegt, sodass der Tisch bei jeder Gelegenheit sofort als Spielbrett umfunktioniert werden konnte. Der Meister ließ sich beim Spielen auf dem Bett nieder, während der Junge auf einem Stuhl saß, der sonst in der Essecke stand. Zu ihren Füßen lag der Kater Pawn.
Eins, zwei, drei, vier … Der Junge zählte die Anzahl der Felder, die sich abwechselten: weiß, schwarz, weiß, schwarz … In der Breite und in der Länge waren es jeweils acht Quadrate, also insgesamt vierundsechzig Felder. Er stellte sich vor, wie er auf einem Bein zuerst die weißen, dann die schwarzen Felder entlanghüpfte. Völlig ungezwungen ließ er seinen Blick über das Schachbrett wandern und machte dabei die Entdeckung, dass ganz gleich, wohin man schaute, das Prinzip von Schwarz-Weiß und acht mal acht stets gewahrt wurde. Man konnte also schlecht mogeln. Der Meister wartete geduldig, bis der Junge sich mit dem Brett angefreundet hatte.
Wie viele Partien mochten wohl schon darauf gespielt worden sein? Da es auch als Tisch benutzt wurde, war das Brett regelrecht blank gerieben, manche Felder hatten Dellen, und die Linien zwischen den einzelnen Feldern verschwammen. Aber das störte den Jungen nicht im Geringsten. Im Gegenteil, solch kleine Schadstellen erschienen ihm wie eine Hinterlassenschaft des ertrunkenen Busfahrers und machten ihm das Schachbrett vertrauter. Das Einzige, woran er sich noch erinnerte, waren die im Wasser treibenden Achselhaare des Toten. Während er das Schachbrett betrachtete, stellte er sich vor, wie die Finger des Meisters und des toten Fahrers, der seine weißen Baumwollhandschuhe abgestreift hatte, auf dem Spielbrett hin und her huschten.
Schließlich strich der Junge mit dem Zeigefinger um den Rand des Bretts. Dort war die Grenze. Die Schutzmauer, die
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