Schwimmen mit Elefanten - Roman
auch Partien zu spielen, bei denen die Bedenkzeit genau festgelegt war. Auch der Junge mochte die spannungsgeladene Atmosphäre mit der tickenden Uhr lieber als jene gemütlichen Partien, wo der Zeit keine Beachtung beigemessen wurde.
Ebenso wie das Schachbrett waren auch die Figuren ziemlich abgegriffen. Dem weißen Turm fehlten die Zinnen, und ein schwarzer Springer hatte eine tiefe Schramme. In den riesigen Händen des Meisters jedoch machten sie sich vortrefflich. Sobald er eine Figur aufnahm, gab diese sofort jeden Widerstand auf. Im Gegensatz zu dem Jungen. Selbst die kleinen Bauern ragten zwischen seinen Fingern hervor und fühlten sich dabei sichtlich unbehaglich. Auch nachdem der Junge gesetzt hatte, wirkte die Figur noch irgendwie verängstigt.
Zuerst hatte der Junge geglaubt, es würde reichen, wenn er die Wege der Figuren auswendig lernte. Aber schon bald begriff er, dass es damit nicht getan war. Geduldig brachte ihm der Meister alles Schritt für Schritt bei. Dabei ging er nicht systematisch vor, sondern erklärte immer nur jene Züge, die ihm gerade in den Sinn kamen. Im Nachhinein betrachtet, ähnelten seine Beschreibungen Sternbildern, die sich über die Weite des Firmaments erstreckten und dort ein wundervolles Muster bildeten.
Anfangs machte der Junge oft Fehler, ließ die Möglichkeit einer Rochade verstreichen oder die Gelegenheit, einen Bauern
en passant
zu schlagen. Doch der Meister wurde nie ungeduldig, sondern wies ihn mit ruhiger Stimme auf den Fehler hin:
»Hoppla, so würde ich nicht setzen.«
Aber es klang nicht wie ein Tadel, sondern eher wie eine Entschuldigung, als wollte er sagen: Tut mir leid, aber in der Welt des Schachs gelten nun einmal diese Regeln.
So verlor der Junge die Angst, Fehler zu machen, und konnte unbeschwert aufspielen. Dadurch, dass er die Figuren nach eigenem Gutdünken setzen durfte, konnte er sich Schritt für Schritt auf die Überquerung des großen Schachozeans vorbereiten.
Dabei liebte er es, vorgegebene Aufgaben zu lösen. Der Meister suchte aus den Lehrbüchern, die bei ihm im Regal standen, angemessen schwierige Konstellationen heraus und stellte sie auf dem Schachbrett nach.
»Wie viele Züge sind nötig, um den schwarzen König mit dem weißen Turm matt zu setzen?«
»Hast du eine Idee, wie man in dieser Stellung ein Remis herbeiführen kann?«
Obwohl der Meister die Lösung bereits wusste, versetzte er sich in die Lage des Jungen und dachte mit ihm gemeinsam über die Lösung nach. Beide hockten vor dem Brett, die Arme auf identische Weise verschränkt, wobei ihnen zur gleichen Zeit ein Seufzer entfuhr. Dem Jungen war bewusst, dass der Meister ihm weit überlegen war, aber wenn er ihm so gegenübersaß, empfand er eine große Freude.
Natürlich hatte der Junge auch Schwächen.
Ihn plagte ein schlechtes Gewissen, wenn er die ihm zur Verfügung stehende Bedenkzeit voll ausschöpfte, weil er genau wusste, dass der Meister nie etwas dagegen sagen würde. Deshalb bemühte er sich, ihn nicht unnötig lange warten zu lassen. Er wollte ihm keinen Verdruss bereiten und zwang sich zur Eile. Manchmal war er so um die Gefühlslage seines Meisters besorgt, dass er einen unbedachten Zug machte.
»Was soll das denn?«
Dem Meister entging nichts. Ihm war sofort klar, ob ein Zug wohlüberlegt war oder nicht.
»Nun ja … ich wollte eigentlich …«
Wenn der Junge um eine Antwort verlegen war, stellte der Meister die Figur wieder auf das Ausgangsfeld zurück.
»Du darfst eine Figur nicht bloß aufs Geratewohl setzen, verstehst du? Denk gut nach! Allein darauf kommt es an. Der Zufall wird dir nie zu Hilfe eilen. Erst wenn man verloren hat, darf man aufhören nachzudenken. Lass dir deinen letzten Zug noch einmal durch den Kopf gehen.«
Während sie Schach spielten, kauerte Pawn unter dem Tisch und spitzte die Ohren. Manchmal strich er mit dem Schwanz um das Bein des Jungen, oder er leckte an den Zehen des Meisters.
Ich werde an nichts anderes mehr denken und jeden Zug genau abwägen, sagte sich der Junge und spielte fortan selbstbewusster.
»Darf ich Pawn auf den Schoß nehmen?«
Der Junge wusste selbst nicht genau, warum er diesen Wunsch verspürte, aber während er nachdachte, suchte seine Hand unwillkürlich nach dem Kater.
»Meinetwegen.«
Der Meister zeigte sich nachsichtig, worauf der Junge unter den Tisch krabbelte und Pawn zu sich heranzog.
Auf der Unterseite des Tisches waren Lackspuren und wellenförmige Maserungen auf der unbehandelten
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