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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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Holzoberfläche zu sehen. Nachdem er Pawn unter dem Kinn gekrault hatte, streichelte er ihn mehrmals vom Kopf bis zum Schwanz. Er spürte den Körper des Katers wie seinen eigenen: die Knochen der Wirbelsäule, die Kontraktion seines Herzens, die Muskeln, die Blutzirkulation. Durch die Wärme des Tieres fühlte er sich geborgen. Plötzlich überkam ihn das Gefühl, nicht er würde den Kater, sondern der Kater würde ihn im Arm halten und liebkosen. Er machte sich ganz klein, um in diesem Gefühl vollends aufzugehen. Seine Lippen waren verschlossen wie bei seiner Geburt, nichts Überflüssiges konnte hindurchdringen. Es herrschte eine unbefleckte, reine Stille.
    In diesem Moment konnte der Junge durch die Holzmaserung hindurchschauen und das Spielfeld erkennen. Er hatte die genaue Position jeder einzelnen Figur vor Augen.
    »Jetzt habe ich es«, rief er und schoss im gleichen Moment unter dem Tisch hervor, um mit seinem weißen Springer den schwarzen Bauern auf c6 zu schlagen. Diesmal blieb sein Meister stumm, und der Kater kauerte reglos unter dem Tisch, als wüsste er über seine Rolle bei der Lösung des Problems genau Bescheid.
    Seitdem pflegte der Junge, sobald er mit einer verzwickten Situation konfrontiert wurde, unter den Schachtisch zu krabbeln. Dort konnte er, während er Pawn streichelte, das Spielfeld von unten betrachten. Er verschwendete keinen Gedanken daran, ob es sich dabei um einen Regelverstoß handeln könnte. Schließlich hinderte ihn sein Meister nicht daran, und seine Konzentrationsfähigkeit verbesserte sich dadurch offenkundig. Mit der Zeit dehnten sich die Phasen, in denen er unter dem Tisch verweilte, immer weiter aus. Zuerst blieb er nur so lange, bis er sich für einen Zug entschieden hatte, aber dann wurden daraus zehn und später fünfzehn Züge, bis er schließlich über die Hälfte der Partie abtauchte.
    Durch dieses Abtauchen offenbarten sich die Fähigkeiten noch deutlicher. Anfangs schob der Meister es auf das kindliche Gemüt des Jungen, der zwar Schach spielen, aber auch mit dem Kater spielen wollte, doch dann wurde er eines Besseren belehrt. Der Junge konnte sich die Position jeder Figur merken, so als hätte er sämtliche Züge in einem fotografischen Gedächtnis gespeichert. Nicht der Anblick des Schachbretts, sondern gerade dessen Abwesenheit schärfte seine Wahrnehmung. Die Melodie auf dem Schachbrett erklang ohne die Figuren subtiler und tiefgreifender. Und der Meister ließ den Jungen gewähren, weil er selbst an dieser Musik teilhaben wollte.
    Hätte jemand in den Bus hineingeschaut, wäre er bestimmt verblüfft gewesen. Ein dicker Mann sitzt vor einem Schachbrett, wohingegen der Platz ihm gegenüber leer bleibt. Den riesigen Kopf auf seine Hand gestützt, denkt er über seinen letzten Zug nach. Plötzlich schießt ein Junge unter dem Tisch hervor, versetzt in Windeseile eine der Figuren, drückt auf die Uhr und verschwindet wieder. Eine Katze miaut. Der Dicke lehnt sich mühsam über das Schachbrett und macht seinen nächsten Zug. So wandern die Figuren auf dem Brett hin und her.
    Die wichtigste Begabung, die der Meister bei dem Jungen erkannte, bestand darin, dass sein Schüler aus eigenen Fehlern lernte. Wie jeder Anfänger tappte er schnell in eine Falle, aber im Gegensatz zu den anderen, die sich sofort daraus befreien wollen, kroch er förmlich in sie hinein, um ihre Form und Beschaffenheit zu erkunden. So fiel er nie zwei Mal ins selbe Loch.
    Eines Tages schenkte der Meister ihm ein Notizheft. Es war kleiner und dünner als die üblichen Schulhefte, und sein Umschlag schimmerte hellblau. Alle Seiten enthielten leere, durchnummerierte Tabellen. Sie sahen aus wie Prüfungsbögen.
    »Das ist ein Notationsheft«, sagte der Meister. »Darin kannst du die einzelnen Partien aufzeichnen. Wenn du von nun an gegen jemanden antrittst, dann notiere dir den Spielverlauf. Seite für Seite wird so deine Geschichte erzählt.«
    »Das ist wirklich für mich?« rief der Junge.
    »Aber gewiss doch.«
    Ungläubig strich der Junge über das Heft.
    »Vielen Dank.«
    Es dauerte ein wenig, bis er in der Lage war, sich dafür zu bedanken, denn er war es nicht gewohnt, Geschenke zu empfangen.
    »Allein durch das Heft werde ich das Gefühl haben, dass ich beim Schachspielen Fortschritte mache.«
    »So, nun pass auf! Zuerst trägst du das Datum ein und die Namen der Spieler, für Weiß und für Schwarz. In den durchnummerierten Spalten notierst du dann die einzelnen Züge. Die Figuren werden

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