Schwimmen mit Elefanten - Roman
unbeschwert. Er hatte das Gefühl, nur noch aus Lippen zu bestehen, Lippen, die sich perfekt aneinanderschmiegen, als hätte nie ein Arzt Gott ins Handwerk gepfuscht. Und er ist nicht allein. Indira und Miira durchschwimmen mit ihm das Meer. Neben ihm, mit flatternden Ohren und schwingendem Rüssel, paddelt der Elefant, ohne seine eiserne Fußfessel, losgelöst vom Betondach des Kaufhauses. Miira schwimmt im Innern einer großen Luftblase an Indiras Seite. Sie ist scheu und zurückhaltend wie immer, aber man kann deutlich ihr liebliches Lächeln erkennen. Der Junge schloss die Augen und ließ sich mit der Strömung treiben, um seine Gefährten nicht zu verlieren. Da tauchte auf einmal der schwarze König des Meisters vor seinen geschlossenen Lidern auf. Aber er war nicht so wie sonst.
Der König, eigentlich durch raffinierte Verteidigungslinien geschützt und souverän seine Stellung haltend, wirkte auf einmal hilflos und ängstlich. Der Junge erkannte, dass das fein gewebte Spinnennetz an einer Stelle gerissen war. Ein Faden hing lose herab, und durch diesen Riss blies dem König ein eisiger Wind entgegen.
»Schach!«
Der Junge schob seine Dame auf f7 und kroch wieder unter den Tisch.
Nach einer Weile hörte er auf dem Schachbrett ein Geräusch, das er noch nie vernommen hatte. Es klang besonnen, aber anders als die üblichen Züge. Als der Junge den Kopf hervorstreckte, ahnte er, dass etwas Besonderes geschehen war. Der Meister hatte seinen schwarzen König auf das Brett gelegt.
Es war das erste Mal, dass er gegen den Meister gewonnen hatte. Vier Jahre nach ihrer ersten Begegnung in dem Busdepot.
»Du hast mich besiegt, mein Junge«, erklärte der Meister.
»Ist das wahr?«
Der Meister lächelte.
Der Junge schaute erstaunt den gestürzten König an, als hätte er gerade erst erfahren, dass es beim Schach darauf ankam, den Gegner matt zu setzen. Das anfangs mit zweiunddreißig Figuren bevölkerte Brett war verwaist. Von den Königen abgesehen, gab es nur noch die beiden Damen und jeweils einen Turm und einen Bauern. Auf den leeren Feldern war nichts mehr von dem leidenschaftlichen Kampf zu spüren, der zwischen den Figuren ausgetragen worden war, es herrschte eine überbordende Stille. Der Junge wusste nicht, ob er sich über den Sieg freuen sollte oder nicht.
»Aber … aber in meinen Gedanken sind plötzlich Indira und Miira aufgetaucht … Das sind meine Freunde, sie wollten mir helfen.«
»Aber nein. Niemand hat dir geholfen, das hast du ganz alleine geschafft. Das war eine großartige Leistung, mein Junge«, sagte der Meister. »Herzlichen Glückwunsch.«
Er reichte ihm über das Brett hinweg seine riesige Hand. Diese Geste gab dem Jungen das Gefühl, er dürfe mit Recht stolz auf sich sein. Der gestürzte König mitsamt seinen Vasallen, die ihre Pflicht erfüllt hatten, das abgenutzte Schachbrett, auf dem noch Kuchenkrümel lagen – alles zeugte vom Triumph des ins Sonnenlicht getauchten Jungen.
»So, nun trag das Ergebnis in dein Notationsheft ein«, drängte ihn der Meister, worauf der Junge seinen letzten Zug – Df7 – eintrug und das »1:0 für Weiß« einkreiste.
Diese Aufzeichnung wurde zu einem Schatz, an dem er sich zeit seines Lebens erfreuen sollte. Da er über die Jahre hinweg immer wieder diese Seite aufschlug, löste sich irgendwann der Heftfaden, und mit der Zeit verfärbte sich das Papier.
Aus heutiger Sicht war es nichts weiter als eine banale Notation, bei der sich sogar einige Fehler eingeschlichen hatten. Der Junge verzeichnete noch viele bedeutsame Partien, doch er blätterte gern zu der Stelle zurück, wo schwarz auf weiß stand, wie er den Meister zum ersten Mal besiegt hatte.
In dieser Partie herrschte gewiss eine gehörige Portion jugendlicher Übermut, sie zeugte aber auch von einer Bereitschaft zu empfangen. Die weißen Figuren preschen vor wie ungezähmte Jungtiere, die in der Prärie herumtollen, während der schwarze König unerschütterlich die Stellung hält wie ein Patriarch, den nichts aus der Ruhe bringt. Verglichen mit den berühmten Partien der Großmeister war diese natürlich noch ungelenk und holprig in der Melodie, die sämtliche Züge miteinander verband, aber zumindest schmeichelte sie den Ohren. Wie unfertig das Spiel des Jungen auch gewesen sein mochte, das Orchester seiner Figuren erzeugte einen Klang, der einen tief im Herzen traf und Sehnsucht nach einer noch schöneren Partitur weckte. In seiner Notation konnte man dies bereits spüren.
Er
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