Schwimmen mit Elefanten - Roman
die behutsam ihr Netz spann. Ruhig und ohne überflüssige Drohgebärden umkreiste er den gegnerischen König. Er wartete, bis sein Gegenüber sich provozieren ließ. Wenn dieser es vor Ungeduld nicht mehr aushielt und mit ein, zwei Zügen zum Angriff überging, zog er unbemerkt die Fäden immer enger. Fäden, die so hauchfein waren wie Pawns Schnurrhaare. Anfangs dachte man nie an eine Falle, doch dann war man plötzlich umzingelt, und jede Rettung kam zu spät.
Der Junge verfing sich oft in diesem Netz. Sosehr er sich auch vornahm, auf der Hut zu sein, am Ende siegte seine Ungeduld, und er tappte in die Falle, die ihm sein Gegner gestellt hatte.
Auch an jenem Tag verlief das Spiel ähnlich. Während der Meister seine Verteidigungslinien zusammenzog, versuchte der Junge mehrmals einen Durchbruch. Doch der Meister wehrte alle Angriffe problemlos ab und spann unbeirrt seine Fäden. An seinen Fingern klebten noch Kuchenkrümel.
Dann, nach dem fünfzehnten Zug, wurde die Partie lebhafter. Der Junge tauchte unter den Schachtisch, legte sein Notationsheft auf den Boden, hob Pawn auf seinen Schoß und ging abermals zum Angriff über. Aber die Stellung des Meisters bot keine Lücke, wieder einmal hatte er es geschafft, ein veritables Bollwerk zu errichten. Während der Junge den Kater streichelte, starrte er auf die Unterseite des Schachbretts.
Unerbittlich standen sich die feindlichen Linien gegenüber. Der Meister zog seinen Turm von a8 auf d8. Der Junge brauchte nicht mehr jedes Mal unter dem Tisch hervorzuschauen, sondern wusste, ohne auf das Brett zu blicken, allein durch die leichte Vibration des Tisches, welche Figur der Meister wohin gesetzt hatte. War es der Beginn einer groß angelegten Attacke, wollte er seine Stellung sichern, oder war es ein Köder, um ihn in die Falle zu locken? Der Junge spielte alle Möglichkeiten im Kopf durch. Man muss ihn herausfordern, sagte ihm seine innere Stimme. Wenn er jetzt zögerte, würde er seinen Läufer verlieren, und damit war auch die Chance vertan, wenigstens ein Remis herauszuholen.
In dem Augenblick, als er mit dem Läufer angreifen wollte, fing der Kater an zu miauen. Die Laute, die aus seinem kleinen Maul entwichen, ließen seine Schnurrhaare erzittern und schwebten einige Augenblicke unter dem Tisch wie ein unsichtbarer Ballon. Der Junge, der angestrengt die Unterseite des Schachbretts anstarrte, hatte plötzlich den Eindruck, er könne die Figuren auf dem Brett deutlich vor sich sehen. Alles um ihn herum nahm deutlichere Formen an, selbst Pawns Miauen glaubte er mit Händen greifen zu können.
Er überdachte seinen geplanten Angriff mit dem Läufer und entschied spontan, mit ihm seine Verteidigung zu stärken. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, welche bedeutende Rolle einer Figur zukommt, die kurz davorsteht, geschlagen zu werden. Befand sie sich in Gefahr, konnte sie ungeahnte Kräfte entwickeln. In diesem Moment glich sein Läufer einem Schmetterling, der durch ein Spinnennetz schlüpft, um vom Nektar einer Blume zu kosten. Das Gespinst hing so nah vor den Augen des Jungen, dass es vom Flügelschlag des Falters erzitterte.
Von da an änderte sich die Situation. Die Figuren des Meisters verloren zusehends ihren kristallklaren Klang, der sich nun durch den Schatten des Zögerns verfärbte. 21 Züge, 22 Züge, 23 Züge … keiner von beiden wollte nachgeben. Und dann geschah das Unglaubliche: der Meister ließ sich aus der Reserve locken und ging zum Angriff über. Einen Moment lang stutzte der Junge. Er grub seine kribbelnden Fingerspitzen in Pawns Fell, um seine Aufregung zu bändigen. Die frisch gewaschene und in der Sonne getrocknete Decke des Katers verströmte einen herrlichen Duft.
Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel, im Bus war es gleißend hell. Die Lichtstrahlen fielen durch die getönte Scheibe des Dachfensters und formten lange gelbe, blaue und dunkelrote Bänder, die bis unter den Schachtisch gelangten. Der Morgenwind hatte sich gelegt, und die Fahne am Bus hing schlaff am Mast herunter.
Als der Junge mit dem Kater im Arm die hereinflutenden Lichtstreifen sah, erfasste ihn ein wundersames Gefühl, das er nie zuvor erlebt hatte. Ihm war, als schwimme er in einem Meer, das sich auf dem Dach des Kaufhauses befand.
Er war weit unter der Wasseroberfläche, obwohl der Meeresgrund immer noch in unermesslicher Tiefe lag. Es herrschte eine durchdringende Kälte, er jedoch empfand keinerlei Furcht. Ganz im Gegenteil, er fühlte sich seltsam
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