Schwimmen mit Elefanten - Roman
mit Buchstaben aus dem Alphabet bezeichnet und das Zielfeld mit den entsprechenden Koordinaten. ›K‹ steht für den König, ›D‹ für die Dame, ›L‹ für die Läufer, ›S‹ für die Springer und ›T‹ für die Türme. Es ist nicht kompliziert, und die Koordinaten kennst du ja, oder? Waagerecht werden Felder von ›a‹ bis ›h‹ bezeichnet, senkrecht von ›1‹ bis ›8‹. ›x‹ zeigt an, dass man eine Figur geschlagen hat. Ach ja, die Bauern haben keinen eigenen Buchstaben.«
Wegen der überschwänglichen Freude des Jungen war der Meister sehr gerührt und hatte sofort die Notation erklärt, um seine Verlegenheit zu überspielen.
»Und wieso haben die Bauern keinen Buchstaben?« fragte der Junge.
»Die Bauern sind die Seele dieses Spiels, sie brauchen kein persönliches Zeichen. Bauern sind einfach Bauern, oder?«
»Ja!« Der Junge stimmte ihm mit einem entschiedenen Nicken zu.
»Nun, wollen wir dann mit unserer ersten richtigen Partie beginnen?«
Der Meister rieb sich verheißungsvoll die Hände.
»Die Aufzeichnung einer Partie nennt man übrigens
Notation
. Dadurch lässt sich jedes Spiel jederzeit wiederholen, denn es wird nicht nur das Resultat, sondern jeder Zug protokolliert. So bekommt man durch die Bewegungsmuster ein lebendiges Bild der Partie und weiß um die Eleganz, die Raffinesse oder die Souveränität der beiden Kontrahenten. Selbst wenn diese bereits gestorben sind. Eine Notation überlebt jeden Schachspieler, und für jeden Schachspieler ist die Notation ein notwendiger Beweis seiner Existenz.«
Der Meister leerte den Beutel mit den Schachfiguren über dem Brett aus. Der Junge hatte zwar kaum etwas von dem verstanden, was sein Lehrer ihm gerade erzählt hatte, aber er freute sich auf die Partie, die nun gleich beginnen würde.
Er eröffnete mit einem weißen Bauern, den er von e2 nach e4 zwei Felder vorrückte.
e4
. Der Junge notierte mit Bleistift seinen Zug in der ersten Zeile auf der ersten Seite des Hefts. Vorsichtig schrieb er das kleine »e« und dann die Ziffer »4«, damit ihm kein Fehler unterlief.
Jedem normalen Menschen mochten sie wie beliebige Buchstaben und Zahlen erscheinen. Für den Jungen jedoch waren es Zeichen mit einer tiefgreifenden Bedeutung. Es handelte sich um nichts Geringeres als seinen ersten Schritt als Schachspieler. Wie gebannt starrte er auf den Eintrag. Auch wenn er die Bedeutung von Raffinesse und Souveränität noch nicht verstand, spürte er die besondere Ausstrahlung, die von den beiden Zeichen ausging. Und ihm war klar, dass diese Zeichen deshalb so strahlten, weil es sich um Spuren handelte, die er hinterlassen hatte, für immer, sogar für die Zeit nach seinem Tod. Er wusste bereits sehr viel, mehr als sein Meister ahnte. Und mehr, als er selbst ahnte.
4
Das Wetter war heiter an jenem Sonntag gegen Ende des Winters. Der Schnee war von einem leichten Wind über das Meer fortgetrieben worden, und der Himmel war klar. Wie jedes Wochenende eilte der Junge nach dem Frühstück den Weg am Kanal entlang zum Busdepot. Boote dümpelten auf dem Wasser, am Himmel segelten Möwen, in der Ferne erklangen Schiffssirenen. Die betriebsbereiten Busse standen tropfnass vor der Waschanlage und funkelten wie neu. Sogar der sonst verwahrlost aussehende Hof hinter dem Wohnheim lag im Frühling verheißenden Sonnenlicht. Die Palmwedel und Pawns Decke, die an einem Busfenster zum Trocknen aufgehängt war, wehten sachte im Wind.
»Guten Morgen«, rief der Junge und stieg leichtfüßig die Stufen hoch.
»Hallo, mein Junge.«
Der Bus war bereits von einem süßen Duft erfüllt. Pawn rekelte sich unter dem Schachtisch, um sich gleich wieder zusammenzurollen und die Augen zu schließen.
Zeit seines Lebens sollte der Jungen an diesen Sonntag zurückdenken. Er verstaute die Erinnerung daran tief in seinem Herzen. Wenn er sich einsam oder verlassen fühlte, ließ er die Partie, die an jenem Tag in dem von der Sonne gewärmten Bus stattfand, im Geiste wiederauferstehen und fand Trost in der Freude am Schachspiel, so wie es ihn sein Meister gelehrt hatte.
Sie spielten am frühen Nachmittag, nachdem sie reichlich Kuchen gegessen hatten. Die Eröffnungsphase der Partie verlief ereignislos. Der Meister war kein Gegner, der von selbst zum Angriff überging. In dieser Hinsicht war er das genaue Gegenteil des ertrunkenen Busfahrers, der immer sehr offensiv gespielt hatte, ohne dabei Opfer zu scheuen. Die Vorgehensweise des Meisters erinnerte eher an eine Spinne,
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