Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
blutiger Leichnam lag. Was hatten sie mit der Frau gemacht? Die Momente seiner hastigen Flucht waren zu sehr mit Panik angefüllt gewesen, als dass er hätte erfassen können, was genau geschah. Richard entsann sich nicht, die Frau leblos am Boden liegen gesehen zu haben.
Er schlich weiter seinen Feinden hinterher, in einem Abstand, den er für sicher hielt. Sie hatten es nicht eilig gehabt, den Hof zu verlassen, sonst wären sie wohl schon fort gewesen. Er war immerhin eine ganze Weile weggerannt und hatte sich versteckt. Wenn er so darüber nachdachte, war das immer noch eine bessere Idee, als ihnen nachzuschleichen.
Doch obgleich er ihre Bösartigkeit riechen konnte – oder es sich zumindest einbildete –, vermochte er sich nicht abzuwenden. Es war zu viel geschehen.
Der Abend senkte sich hernieder. Er roch den Spätherbst im Wind. Der Regen störte ihn nicht. Fell hatte sein Gutes.
Stur lief er weiter. Wie weit – er konnte es nicht sagen, kannte keine Entfernungsmessung mehr. Der stete Trab ermüdete ihn nicht. Er hatte Hunger, doch seine zerfaserten Gedankengänge und unverlässlichen Emotionen sorgten dafür, dass er zu beschäftigt war, um aktiv an Jagd und Beute zu denken. Die stille Landschaft war nicht so still, wie er immer geglaubt hatte. Er hörte kleine Tiere davonhasten. Er hörte Vögel aufflattern. Und er hörte das leise Ploppen von Hufen auf matschigem Grund, das Schmatzen der Wagenr äder , wie sie durch den aufgeweichten Boden pflügten.
Er zwang sich, langsamer zu werden. Sein Jagdinstinkt hatte ihn zu nah an das gebracht, was so gar nicht seine Beute war. Wenn hier einer Beute war, dann er.
Er versuchte, wieder Herrschaft über seine Gedanken zu erlangen. Er musste außer Reichweite bleiben. Eine kleine Weile hielt er an, doch er war zu unruhig, um einfach stehen zu bleiben. Er rannte in Kreisen herum und schnappte nach Schatten. Seine Beine kannten nur zwei Möglichkeiten: anschleichen und jagen – oder wegrennen.
Dann spürte er einen neuen Eindruck. Die Raben, sie waren ganz nah.
Woher er das wusste, konnte er nicht definieren. Als Mensch hatte er sie sehen müssen . Doch nun wusste er ganz einfach, dass sie da waren. Der Feind. Ganz in der Nähe, auf der anderen Straßenseite.
Er knurrte, bevor er es unterdrücken konnte. Der Abstand zwischen den beiden Gefahren wurde kleiner.
Vielleicht würde er die Vögel in seiner gegenwärtigen Form ja töten können. Auf einmal erfüllte ihn die Vorstellung mit Freude, dass er in ihre fedrigen Körper biss und ihre dünnen Vogelknochen zermalmte. Er versuchte, nicht daran zu denken, doch der plötzliche Drang, diesen Vogelschwarm zu vernichten, der im Moment nur Beute war und nichts anderes, wurde so übermächtig, dass er alles andere ausblendete.
Richard heulte auf, bevor er es verhindern konnte.
Verdammt! Jetzt hatte er sich verraten – allen seinen Feinden gleichermaßen. Warum konnte er einfach nicht vernünftig denken?
Ihm wurde fast nachträglich klar, dass der Wagen angehalten hatte. Die Stimmen der Männer schallten laut durch das Tal. Sie wussten, dass er da war.
Sie wussten auch, dass noch etwas anderes da war. Auch er konnte es riechen durch die wilde Mischung unterschiedlichster Düfte hindurch, durch Matsch und Männer, feindliche Vögel und generelle Gefahr. Weibchen. Es roch deutlich nach Frau.
Der Hauch von Weiblichkeit hing in der Luft, mitten in dem Geruch der Aasfresser. Hatte sie die Seiten gewechselt? War sie nur ein weiterer Feind, den es zu vernichten galt?
So viele Möglichkeiten. Sie warfen einen Schleier über seinen beschränkten Verstand. „Lau f “ , befahl ihm sein Instinkt.
Schon lief er. Die Richtung fiel ihm erst nach ein paar Sekunden auf, und er jaulte fast ob seiner eigenen Dummheit.
Er sprang das Kutschpferd an und schlug die Zähne in dessen Flanke. Dabei fühlte er sich schuldig. Das arme Tier war die einzige Kreatur hier, die nicht sein Feind war, und ausgerechnet die griff er an.
Der Geschmack von Blut wusch ihm die Skrupel aus seinem Gedächtnis und weckte seinen Hunger. Die Worte, die die Männer schrien, konnte er nun nicht mehr verstehen. Die Bewegung des plötzlich anfahrenden Gefährts war so heftig, dass er fortgeschleudert wurde. Er rollte über den Boden, geriet fast unter die Räder, rollte erneut. Schließlich heulte er.
Da fuhren sie hin. Wann sie zurückkommen würden, wusste er nicht, nur dass sie zurück sein würden, denn er hatte sie nicht getötet, und nichts
Weitere Kostenlose Bücher