Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
verwirbelten und entzogen ihm einmal mehr die Fähigkeit, klar zu denken. Ihr Bild blieb in seinem geschundenen Gehirn. Auch ihr Geruch und seine Wut. Ihr helles Haar und sein dunkles Fell. Ihre weiche Haut und seine scharfen Zähne.
Ihr schlanker Nacken hatte direkt unter seinem Maul gelegen, delikat, einladend und weiß. Seine Zähne hatten ihn berührt. Doch selbst durch seinen Schmerz hindurch hatte er es nicht über sich gebracht, seiner Wut nachzugeben. Etwas hatte ihn zurückgehalten. Nicht viel, doch es hatte ausgereicht. So viele Emotionen waren ihm durchs Gemüt gezogen, und eine davon war Mitleid gewesen. Doch nicht nur Mitleid.
Durch den Nebel seiner Wahrnehmung stellte er fest, dass er zu Mitleid fähig war. Die Menschen, die ihn gefoltert hatten, besaßen dazu weder das Talent noch die Anlage. Sie hätten ihn umgebracht, wenn er nicht geflohen wäre.
Und sie hätten sie auch umgebracht.
Vielleicht hatten sie das bereits getan?
Er wusste es nicht genau. Zurückgehen, um es herauszufinden, schien ihm auch nicht verlockend. Oder sollte er genau das tun? Es wäre keine gute Idee, dahin zurückzukehren, wo man ihm Schmerzen zugefügt hatte. Auf der anderen Seite gab es da in seinen Gedanken ganz weit hinten noch einen Ort, der sich weigerte, nur davonzurasen wie der Wind. Ein Flüstern ging durch seine Seele, es gäbe so etwas wie Pflicht.
Am Tag zuvor hatte er eine Verantwortung übernommen. Es ging ihm gegen den Strich, genau diesen Teil seiner Seele zu ignorieren, denn er war sich sicher, dass dieser auf immer verloren bleiben würde, wenn er ihn verlustig gehen ließ. Was er ganz genau wollte, wusste er nicht, doch es schien ihm, als müsste das Leben aus mehr bestehen, als daraus, im gestreckten Galopp durch die Landschaft zu rasen und die nächste Mahlzeit zu erjagen. Es hatte einmal mehr gegeben, und er mochte nichts von dem aufgeben, was er einmal gehabt hatte.
Das hieß, er musste seine Verantwortung wieder aufnehmen, auch wenn er im Moment so gar nicht wusste, was das bedeutete. Es hatte etwas mit seinen Feinden zu tun und mit dem Weibchen. Er musste herausfinden, was genau geschehen war, und was noch immer geschah. Und vielleicht musste er wenigstens versuchen, es zu verhindern.
Nach Norden zu rennen und alles zu vergessen wäre freilich einfacher. Und weitaus weniger gefährlich. Er unterdrückte ein Heulen, als er es als Ausdruck von Angst erkannte.
Vorsichtig kroch er aus seinem Versteck und lief an seiner eigenen Spur zurück. Bisweilen hielt er an, lauschte in den Wind, versuchte, Gefahren vorab zu spüren. Das Fell stand ihm im Nacken hoch bei der Erkenntnis, dass er allein gegen eine Übermacht von Feinden antrat. Drei gegen einen. Sie waren bewaffnet. Sie konnten das Unsichtbare manipulieren. Sie hassten ihn. Sie wünschten seinen Tod.
Und er war nur ein … was auch immer. Ein Mann. Ein Tier. Machte es noch einen Unterschied?
Doch das machte es.
Sie hatten ihn verflucht geheißen, ihm eine Seele abgesprochen. Ein Raubtier hatten sie ihn geheißen. Werwolf.
Manches mochte stimmen. Manches stimmte ganz und gar nicht. Doch wer war er schon, dass er den Unterschied begriff?
Nun konnte er vom Waldrand wieder das verlassene Bauernhaus sehen. Er hörte das ängstliche Wiehern eines Pferdes gar nicht weit weg. Es klang vertraut. Die Frau war auf seinem Pferd hierhergeritten. Der Wallach würde immer noch da stehen, wo sie ihn gelassen hatte. Denn sie war nicht davongekommen.
Diese Erkenntnis überspülte ihn wie ein Säurebad. Und gleich kam die nächste. Sie war gekommen, um ihn zu befreien.
Wieder einmal verwischten seine Gedanken. Er erinnerte sich nur noch an das Geräusch und die Wucht. Er entsann sich der Chance, die er plötzlich gehabt und genutzt hatte, und schließlich daran, wie sie auf dem kalten Boden gelegen und so sehr nach Panik gerochen hatte wie frische Beute.
Versteckt beobachtete er, wie die Mönche ihr Gefährt bestiegen. Richard merkte, dass er knurrte, und verbat sich die Reaktion. Sie mochten ihn hören.
Er folgte ihnen mit den Augen und begann schließlich hinterherzuschleichen, immer in der Deckung der Bäume. Irgendwie begriff er mit den wenigen Gedanken, die ihm klar zur Verfügung standen, dass zumindest einer von ihnen spüren konnte, wenn er allzu nah aufrückte.
Also würde er Abstand wahren.
Doch er musste sehen, was sie vorhatten.
Er kam am Bauernhaus vorbei, blieb in dessen Schatten. Ein Blick in die Scheune verriet ihm, dass dort kein
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