Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
erschreckte sie. Das Problem mit jeder Analyse war, dass man immer innerhalb eines Zusammenhangs urteilen musste. Erst dann bekam man ein Ergebnis. Fräulein Vanholst war besonders gut darin. Sie schien immer die ganze Welt als ein Netzwerk von Zusammenhängen zu begreifen, und Ergebnisse bekam sie auch immer.
Irgendjemand weinte. Das musste das kleine Mädchen sein.
Clarissa konnte es nun nicht länger hinausschieben. Sie musste darüber nachdenken, was sich ereignet hatte, auch wenn sie im Grunde der Meinung war, dass das Wissen um etwas, das sie doch nicht ändern konnte, nichts nutzte.
Dem Mann war es nicht schwergefallen, sie einzuholen, nachdem es ihm gelungen war, die Vögel auf Abstand zu halten. Mit Federvieh wurde er fertig. Und mit Mädchen auch. Er musste sich tief unter die Äste bücken. Sie störten ihn, und so er nur eine Axt gehabt hätte, hätte er sie abgehackt.
Die Zweige erbebten bei Clarissas letztem Gedanken. Es war ja auch kein netter Gedanke gewesen. Sie streckte ihre Finger in sie aus und fühlte den Wind und den Regen.
Der Mann hatte versucht, die Mädchen voneinander zu trennen. Die aber hatten aneinander gehangen, als ob ihnen das gegen einen Angreifer hätte helfen können, der so sehr jenseits dessen war, wogegen sie sich zu wehren vermochten. Als er zum Schlag ausholte, hatte er gleichzeitig zwei Köpfe getroffen. Und zwei ängstliche Stimmen schrien. Das jüngere Mädchen hatte sich mit beiden Armen an Clarissa gehängt, während Clarissa mit einem Arm das Mädchen und mit dem anderen den Baum festhielt. Sie hatte Todesangst vor diesem Mann.
„Lassen Sie mich in Ruhe!“, hatte sie gejault, als er versuchte, sie von dem Baum fortzuziehen. „Gehen Sie weg!“
Das beeindruckte ihn nicht. Ihre Bitten waren ihm nichts weiter als zufällige Laute.
Clarissa hatte gewusst, dass er ein Krimineller war, böse und unmoralisch. Doch nun fühlte sie die Essenz seines verfaulten Innenlebens. Er verströmte Niedertracht wie eine Wolke.
Fast ließ sich Clarissa von dem Wunsch ablenken, ihre neuen Sinne zu definieren. Doch sie schob die Anwandlung fort. Stattdessen trat sie nach dem Schienbein des Mannes.
Er wich ihr aus und schlug erneut zu.
„Lasst los, ihr verdammten Weiber!“, brüllte er wütend.
Sie ließen nicht los. Vielmehr krallte sich Clarissa noch fester an den Baum.
Der Mann schlug noch einmal nach ihnen. Die Köpfe der Mädchen knallten zusammen, und sie schrien umso lauter.
Es war so unfair. Karreg war nicht da. Er hatte gesagt, sie wäre hier sicher. Aber sie war nicht sicher. Niemand war sicher in der Wildnis.
„Karreg!“, schrie sie erneut. Sie versuchte, nicht davonzukriechen, sondern strebte noch näher dem einzigen Hort zweifelhafter Sicherheit zu, den sie in den letzten Stunden gekannt hatte, dem Baum.
„Hilf mir!“
Karreg war nicht da. Der Baum schon. Er seufzte und knurrte als Antwort auf ihre Not, und auch wenn das kaum möglich war, hielt sie sich noch fester, als ob die Rinde sie irgendwie schützen würde.
Dann tat die Rinde genau das. Es war nicht so, dass sich der Baum öffnete, es gab kein plötzliches Tor im Holz, und dennoch hieß er sie willkommen. Die Welt schloss sich hinter ihr, wie so oft, wenn Clarissas Geist auf einmal auf Wanderschaft gegangen war, fort vom Hier und Jetzt.
Drei Schreie hallten durch den Wald, dann erscholl ein vierter von außerhalb, nur ein wenig gedämpft durch die Rinde, die ihn von jenen im Holz trennte.
„Clarissa!“ Die Stimme klang panisch. Es war Karregs Stimme.
Er war zu spät gekommen.
Kapitel 54
I ch denke immer noch , wir hätten zurückfahren sollen!“, sagte Bruder Anselm.
„Nein. Sinnlos“, gab der Priester zurück. „Gott hat uns Köpfe gegeben, damit wir denken. Der Werwolf hätte sicher nicht dort auf der Straße auf uns gewartet. Dafür können wir in seinem Haus auf ihn warten. Er hat uns gesagt, wer er ist: der Grundbesitzer dieser Gegend, ein Bürger dieses Königreichs und ein gesetzestreuer Mann. Einfach aufzuspüren.“
Sie hatten auf der Landstraße angehalten, die hinunter ins Tal führte. In der Mitte der Senke standen einige große Gebäude. Kein Bauernhof, eher ein Gutshof mit großem Herrenhaus. Das Gebäude war eine Steinkonstruktion mit Türmchen und Ornamenten, die zeigten, dass man schon seit Generationen darauf geachtet hatte, dass dieses Haus nicht etwa mit einem Bauernhof verwechselt werden konnte.
Allerdings gab es durchaus Scheunen, Stallungen, Weiden und
Weitere Kostenlose Bücher