Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
tot bin. Trotzdem … es ist mir wirklich unangenehm, und ich will auch wirklich nichts komplizierter machen, als es ist, aber ich bin am Ende meiner Kräfte. Es tut mir außerordentlich leid.“ Sie schluckte eine Anwandlung, wieder zu weinen, entschlossen hinunter. Ein weiterer hysterischer Anfall gehörte sich nicht.
Er blickte zu ihr hoch und betrachtete sie eine Weile. Dann nickte er.
„Wir werden hoffentlich bald etwas finden. Ich hatte auf einen Unterstand gehofft, wie ihn Holzfäller benutzen. Am liebsten etwas mit einer Tür, die man schließen kann.“
„Würde das die Bruderschaft – wie Sie sie nennen – denn draußen halten?“
„Nein. Aber“, er wandte sich um und deutete nach hinten, „der verdammte Wolf ist vielleicht nicht in der Lage, Türen zu öffnen.“
Sie blickte über die Schulter in die dunklen Schatten hinter ihnen. Zwei helle Augen funkelten dort nicht allzu weit entfernt.
„Oh Gott. Was kann er nur wollen?“
„Davon abgesehen, dass es sich um ein sehr verwirrtes Tier zu handeln scheint, das mit unterschiedlicher Intensität mal dies und mal jenes will, bin ich mir recht sicher, Fräulein Vanholst, dass es im Moment darüber nachgrübelt, wen von uns es zuerst fressen möchte.“
Kapitel 53
D ie Nacht war überwältigend . Ihre Brillanz beeindruckte Clarissa zutiefst. Der Regen glitzerte in einzelnen langsamen Diamantentropfen. Die Bäume kuschelten sich in aufsteigenden Reihen an den Hügel, die dem obersten der Bäume Verehrung zollten. Dem Meisterbaum.
Sie hatte sich nie gefragt, ob es bei Bäumen Standesunterschiede gab, doch schien es ihr nun, als gäbe es durchaus eine Rangfolge.
Sie wusste Dinge, die sie nicht wissen konnte.
Sie spürte Dinge, die sie noch nie gespürt hatte, und vermochte noch nicht einmal zu sagen, was das für Gefühle waren. Sie hatte keine Worte dafür.
Alles war beängstigend neu und zugleich auch unglaublich alt. Nicht einmal die Zeit war noch, was sie gewesen war. Sie schien unregelmäßig zu fließen.
Alles hatte sich verändert.
Nichts war mehr eilig.
Sie blickte abwärts, als sie sich endlich dazu durchringen konnte. Die Wurzeln des Baumes waren sehr viel deutlicher geworden. Ihr Oberflächenrelief war genauestens strukturiert, geradeso wie ein Kunstwerk. Den Baum genauso wachsen zu lassen konnte nicht einfach gewesen sein.
Ein Fuß stak aus dem Holz heraus. Das sah nicht schön aus. Nicht nur wirkte er deplatziert, er setzte auch eine Gedankenkette in Bewegung, die Clarissa nicht zu Ende denken wollte.
Ein einzelner Fuß.
Es war nicht Clarissas Fuß, da war sie sich sehr sicher. Der Fuß war groß und trug einen kräftigen Lederstiefel, der unter einem Hosenbein verschwand.
Der Fuß hatte absolut kein Recht, dort zu sein.
Andererseits tat er im Moment nichts wirklich Fürchterliches. Er bebte ein wenig, zitterte. Sie betrachtete die Form. Lange bevor der Morgen anbrach, erhellte Verständnis ihre Gedanken.
Der Fuß gehörte zu dem Mann. Er war so nah, dass sie ihn spüren konnte. Er bedrängte ihre Gedanken ebenso sehr wie ihren Körper. Er strahlte Gefühle aus, von denen kein einziges freundlich war. Doch waren sie leicht zu lesen, wenn man es lesen nennen mochte. Konnten Gedanken Lektüre sein? Oder war der Sinn eher haptisch? Spürte sie seine Emotionen wie die eisigen Berührungen gefrorenen Giftes?
Seine Gefühle stanken, und doch roch sie, nun da sie tief einatmete, nur die Bäume und den Herbst, die Blätter auf dem Boden, den kalten Regen, den Schnee, der nicht mehr fern war. Den Wind konnte sie riechen, er wehte vom Osten herüber und war wild und schneidend. Die weniger prominenten Bäume wiegten sich in seiner Bewegung, als ob sie ihm ausweichen wollten, aber von ihren Wurzeln daran gehindert wurden.
Ihr ging es da genauso.
Es war durchaus angenehm, Wurzeln zu haben. Wurzeln gaben einem eine Position und einen Ankerpunkt. Sie konnte sie unter sich fühlen, und wieder versuchte sie zu analysieren, mit welchem Sinn sie sie genau spürte. Sie machte sich in ihren Gedanken eine Liste: sehen, hören, schmecken, riechen, tasten.
Es war ein bisschen von alldem und dennoch sehr anders. Ein neuer Sinn, den sie bislang nicht gehabt hatte oder falls doch, sich nicht eingestanden hatte. Sie fühlte die Wurzeln nicht mit ihren Füßen. Denn das hätte bedeutet, sie stünde auf ihnen. Doch fühlte sie die Knochen des Baumes, wie sie sich unter ihr erstreckten, als wären es ihre eigenen Knochen.
Die Erkenntnis
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