Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
besonders gefallen hat. Ich begreife nicht, warum es hier so ruhig dasteht. – Aber es ist auf alle Fälle das gleiche Tier.“
„Also Sie beide wollen, dass ich es erschieße?“
Schweigen.
„Ganz sicher?“, fragte Sutton noch einmal.
Das Schweigen hielt an. Nach einer Weile rappelte sich die Lehrerin vom Boden hoch. In einer recht sinnlosen Anwandlung versuchte sie, ihre Kleidung mit den Händen sauber zu bürsten. Das Tier stand neben ihr, und mit einem Mal umfasste es mit den Zähnen ihr Handgelenk.
Die Frau schrie auf, mehr vor Schreck als vor Schmerz. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Gesicht weiß vor Schock.
Sutton hob die Waffe. Die Welt stand still. Niemand rührte sich.
„Guter Gott!“, flüsterte die Frau.
„Nicht schießen!“, sagte McMullen plötzlich und trat in die Schusslinie. „Ich denke doch, dieses Tier ist …“
Die Welt verwirbelte. Der Boden bebte. Die Luft zischte, als wolle sie ein plötzliches Vakuum füllen.
Ein bläuliches Loch erschien über McMullen.
Sutton ließ die Waffe fallen und griff blitzschnell nach seinem jungen Logenbruder. Doch die Hände fassten nichts als Luft, als die Nebel von einem langegezogenen Irgendwas, das eben noch McMullen gewesen war, nach oben im Nichts verschwanden.
„McMullen! Hören Sie sofort mit dem Blödsinn auf und kommen Sie zurück!“
Mit einem trockenen Plopp schloss sich die Welt, und die Verwirbelungen hörten auf. Auf dem Boden explodierte eine einzelne Feder in blauschwarze Flammen.
Die Frau sank leblos ins Heu.
Kapitel 60
E s war Bruder Anselm , der die Tür fand. In so etwas war er unschlagbar. Für ihn war die Welt voller Geheimtüren, egal ob sie in Gebäuden oder in Menschen waren. Er fand sie alle, und dann machte er sie auf.
Diese Geheimtür war hinter einem Bücherregal, und man musste Dantes „Göttliche Komödie“ aus dem Weg räumen, um an den Hebel zu gelangen. Dieser war eingerostet und sah so aus, als hätte ihn sehr lange keiner mehr bewegt.
„Gehen Sie Öl holen!“, befahl Bruder Anselm.
Marcus eilte los. Die Bediensteten würden ihm sicher sagen können, wo er welches bekam. Sie lungerten ohnehin in der Nähe herum, ein wenig besorgt, aber doch im Großen und Ganzen durchaus hilfsbereit.
Marcus versagte sich ein Lächeln. Anselm mit seinem magischen Geschick konnte ausnehmend überzeugend sein. Doch es war Pater Bonifatius, der meistens die letzten Zweifel ausmerzte. Seine eigene Überzeugung kannte keine Zweifel, und so schienen diese in seiner Gegenwart immer deplatziert.
„Herr von Rosberg hat uns geschickt, um etwas aus seinen Räumen zu holen“, hatte Pater Bonifatius gesagt, mit einem wohlwollenden Lächeln und fromm gefalteten Hände n. Wie ein Heiligenschein umgab ihn Rechtschaffenheit in diesen Situationen. Dies war ein katholisches Land, und die Menschen trauten der Kirche und ihren Dienern.
Dennoch wusste Marcus, dass Pater Bonifatius’ Aussage eine glatte Lüge gewesen war. Herr von Rosberg hatte sie nicht geschickt, und wäre er in der Nähe, würde er gefoltert, bis er die Wahrheit beichtete oder herausheulte – falls Heulen das Einzige war, was die Kreatur konnte.
Marcus hoffte auf die letztere Variante. Er mochte Folter nicht besonders. Doch da das, was sie taten, unanfechtbar richtig war, konnte er das nicht gut sagen, denn das wäre dann unanfechtbar falsch. Außerdem hatte keiner je behauptet, dass die Arbeit der Inquisition angenehm sei.
Er war – zumindest hatte man ihm das eingeschärft – zu naiv und unintelligent, um das Lügengewebe zu erkennen, das das Böse überall verband und zu einem Ganzen fügte, bis es als Netz des Teufels über die Erde geworfen ward. Es war ihm nicht gegeben, die Tragweite des üblen Tuns eines einzelnen Sünders zu erfassen, dessen wuchernde Ausuferungen höllischen Treibens sich zu einem infernalischen Gesamtbild vereinigten.
Er sah die Zusammenhänge nicht, doch man hatte ihn gelehrt, dass sie da waren. Das B öse war überall , und Zweifel war der erste Schritt auf dem Weg in die Hölle.
„ Öl “, sagte er einer älteren Frau, die diesem Junggesellenhaushalt vorstand. „Wir brauchen Fett, gute Frau.“
Sie blickte ihn irritiert an.
„Was für Fett?“
„Um ein Scharnier zu ölen.“
Sie blickte ihn kalkulierend an und nickte schließlich.
„Bitte kommen Sie, Bruder …“ Er ergänzte ihren Satz nicht. Es schien ihm bei Weitem angenehmer, wenn sie nicht wusste, wie er hieß. Er wollte am liebsten, dass niemand es
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