Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
Rolle spielen, doch sie tat es. Sie hätte es gerne gehabt, wenn diese stahlblauen Augen sie einmal nicht strafend angesehen hätten. Nach Freundlichkeit aus genau diesen Augen sehnte sie sich und versuchte, dieses Sehnen sofort von sich abzuschütteln.
Sie fröstelte. Die Kälte und der Regen hielten sie im Griff und schüttelten sie. Das Pferd blieb stehen. Es stand einfach nur da und schüttelte heftig den Kopf. Vorsichtig zog sie ihre Füße aus den Steigbügeln und ließ sich dann seitlich vom Pferd rutschen, während sie sich noch an der Mähne festklammerte. Ihre Füße berührten den matschigen Boden, und ihre Knie knickten ein.
„Autsch!“
Mit dem Hintern auf dem Boden zu landen war härter gewesen, als sie gedacht hatte. Besagte Sitzfläche hatte unter dem langen Ritt nachhaltig gelitten. Das Pferd drehte sich zu ihr um und stupste sie fast schon amüsiert mit dem Maul.
„Ich weiß“, murmelte sie. „Ich hätte dich nicht stehlen sollen. Du bist an eine so schlechte Reiterin nicht gewöhnt. Es tut mir sehr leid.“
Das Pferd schnaubte.
„Es ist vermutlich gänzlich sinnlos, noch weiterzureiten. Du bist müde. Und ich weiß nicht einmal, wohin es geht.“
Das Pferd tat einen Schritt nach vorn, und Konstanze mühte sich auf die Knie. Kriechend folgte sie dem Tier, ohne seine Zügel loszulassen.
„Ich hätte auf deinen Besitzer warten sollen. Doch ganz ehrlich, ich war mir nicht sicher, dass ich ihm noch mal begegnen wollte. Er ist … er hat …“
Sie schauderte.
„Jetzt rede ich schon mit einem Pferd! Mir ist die Sinnlosigkeit dieses Tuns durchaus bewusst, glaube mir. Aber ich weiß nicht, wo wir hinmüssen und wie ich das alles wiedergutmachen soll. An dem ganzen Unglück bin ich schuld, und mit einem Pferd zu sprechen ist eine relativ harmlose Entgleisung im Vergleich.“
Plötzlich schoss der Schmerz durch ihren ganzen Körper, und sie krümmte sich. Sie kämpfte um Atem und würgte trocken. Erschöpfung und Verzweiflung rissen an ihr, und sie merkte, dass sie laut weinte.
Wie schrecklich peinlich.
Ihr wurde klar, dass es ziemlich dümmlich war, wenn einem sein Verhalten vor einem Pferd peinlich war. Sie kniete auf der nassen Erde in der Dunkelheit, klammerte sich an die Zügel eines Gauls, der ihr nicht gehörte, und wurde von Hoffnungslosigkeit zerfressen. Wie eine Maus in einem Rädchen war sie gerannt und gerannt, und nun wusste sie nicht mehr, wohin. Was noch blieb, war sich einzugestehen, dass sie Clarissa verloren und kein Quäntchen Entschlusskraft mehr hatte.
Sie ergab sich dem Weinen und entschuldigte ihre Schwäche nur damit, dass niemand sie sah und dass ihr Weinen vielleicht eine plötzliche Katharsis auslösen mochte. Dafür waren Tränen schließlich da. Vom Magen bis zum Hals schnürte die Schuld sie zusammen. Die Nässe und der Dreck schmerzten sie zudem.
Sie hatte in allem versagt. Nun ritt sie planlos durch die Landschaft. Wenn sie die Sache logisch betrachtete, so musste sie zugeben, dass sie nicht den Hauch einer Chance hatte, Clarissa zu finden, so nicht jene schwarze Kreatur, die Hilfe versprochen hatte, diese auch geben würde.
Sie fragte sich, ob jenes Wesen etwas mit der unheimlichen Ankunft der Vögel zu tun gehabt hatte. Schienen sie nicht zusammenzugehören? Doch wie war das möglich?
Vögel hatten Clarissa entführt.
Das war so irrational, wie es nur sein konnte. Schwarze Vögel. Vielleicht nur ein Irrtum, kein Irrsinn? Doch der Hof des Bordells war nicht völlig dunkel gewesen. Sie war sich sicher, dass sie Flügelschl äge gehört hatte. Sie hatte die Vogelschar landen und wieder davonfliegen gesehen – mit ihrer Beute in den Krallen.
Der Schrei, den sie von sich gab, war vermutlich überfällig. Das Pferd scheute, und die Zügel zerrten an ihren Händen. Doch sie schrie, warf ihre Frustration in die Dunkelheit. Holte dann tief Atem – und schrie einfach weiter.
Der hysterische Anfall verging im Nichts, und schon war sie wieder allein in der Dunkelheit, immer noch vollerVerzweiflung. Niemand war in der Nähe. Kein Bauernhaus, keine Kirche, kein Dorf. Bäume streckten ihre Äste nach ihr aus, als ob sie sie fassen mochten. Goethes „Erlkönig“ ging ihr nicht aus dem Kopf. Hier hatte auch jemand die Gefahren des Übernatürlichen nicht erkannt. Konstanze hatte gelacht, als Clarissa von dem Gedicht allzu entsetzt gewesen war.
Eine Hand erfasste Konstanzes Schulter. Fast hätte sie wieder geschrien, doch sie schien unfähig, einen einzigen Ton
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