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Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Titel: Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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groß wie er. Ihre großen, graugrünen Augen wichen keinem direkten Blick aus. Ihre ruhige Offenheit baute dort Brücken, wo verschämte Zurückhaltung dies nicht vermocht hätte. Selbst wenn man ihre Fehlentscheidungen bedachte, so ließ ihre innere Stärke sie in einer Welt fragwürdiger Realität doch sehr stabil erscheinen. Sie stach geradezu hervor. Ihr Bild beruhigte seine aufgewühlten Gedanken. Er wollte unbedingt …
    Er hätte sich keinesfalls einmischen dürfen. Verflucht.
    Er musste sie wiederfinden. Er knurrte, grollte.
    Ihm wurde klar, dass er sich zunächst selbst wiederfinden musste. Denn er hatte sich verloren.
    Der Hinterhof hatte kein Hoftor, sondern nur eine Tür. Er näherte sich vorsichtig. Er würde sie öffnen müssen, um dann durch das Haus zu entwischen. Die möglichen Geräusche erschallten in seinem Geiste. Türklinke. Scharniere, die quietschen mochten. Er verharrte reglos. Durch ein Haus voller fremder Leute schleichen? Ein Haus voller Menschen?
    Das Haar stand ihm im Nacken zu Berge. Er setze sich auf seine Fersen nieder, ließ die Hände in den Dreck baumeln und versuchte, sich Gründe zu überlegen, warum er nicht durch das Haus gehen sollte. Weil dies nicht sein Revier war. Die Menschen im Haus waren Fremde: Er konnte ihren Duft durch das halboffene Fenster im ersten Stock riechen. Es war schon sehr unvorsichtig von ihnen. Fenster gehörten geschlossen. Mit dieser ehernen Regel war er aufgewachsen. „Mach das Fenster zu, sonst kommt was rein.“
    Was? Was kam da rein?
    Die Nacht und die Vögel, die Feinde der Rationalität. Und das Wollen. Das Rasen.
    Er hatte das Abendessen verpasst, als er sich entschlossen hatte, noch am gleichen Abend loszureiten und nicht in Passau zu übernachten. Das erwies sich nun als Fehler. Wozu hatte es geführt? Nur zu Grauen und Gefahr. Die nämlichen Männer, denen er hatte entgehen wollen, waren genau dort aufgetaucht, wohin er gegangen war.
    Der Nachgeschmack von intensivem Schmerz überfiel ihn erneut, dem Schmerz, den der Meister bei seiner Attacke gegen ihn gerichtet hatte. Schmerz, der schon in der Erinnerung sein Denkvermögen erneut vernebelte. Seine Haut kräuselte sich geradezu bei dem Gedanken. Er jaulte, lief auf allen vieren im Kreis um sich selbst und setzte schließlich über die Hofmauer.
    Diesmal kam er in einer Seitengasse auf. Passau war nicht sehr groß. Er wusste ungefähr, wo er war. Einen Straßennamen kannte er nicht, doch die Position seiner selbst innerhalb des Universums war definiert. Er wusste immer, wo er war.
    Er versuchte, seine Gedanken einzufangen, die wie Tentakel aus Rauch im Wind vergingen. Sich zu konzentrieren war nicht einfach. Die Welt war so unmäßig direkt, bestand aus einem überwältigenden Konglomerat von Sinneseindrücken. Gerüche zogen am Boden vor sich hin, und auch durch die Luft. Beinahe waren sie sichtbar. Auf alle Fälle waren sie erfassbar, formten ein Raster aus Kommen und Gehen, aus Möglichkeiten und Entscheidungen, die noch zu fällen waren.
    Er hielt sich im Häuserschatten, kroch geduckt weiter. Ein paar Augenblicke später zerrte er wieder an seiner Kleidung. Alles war falsch. Ihre Größe und Form waren so verkehrt wie seine eigene. Er knurrte ob der eigenen Unfähigkeit. Gern hätte er den lästigen Kleidungspelz zu Fetzen zerrissen, doch das ging nicht. Irgendwo in seinen überfrachteten Gehirnwindungen hielt sich auch standhaft der Gedanke, dass es ohnehin keine gute Idee war. Er musste seine Kleidung mit derselben Nachdrücklichkeit bei sich behalten, wie er sich an jenen Gedanken festhielt, die stets in Gefahr schwebten, in dem überwältigenden Mahlstrom der Eindrücke unterzugehen und ihn auf seine Instinkte reduzierten. Das durfte er nicht zulassen. Solange er seine eigentliche innere Substanz noch greifen konnte, weigerte er sich kategorisch, sich der Irrationalität hinzugeben.
    Einmal war ihm dies geschehen. Wann immer er an jenen grausigen Moment dachte, betete er Rosenkränze. Die tranceartige Wiederholung lateinischer Satzgebilde, die man nicht notwendigerweise verstehen musste, blendete jene Erinnerung aus und verschleierte ihm das brennende Gewissen. Ein frommer Ritus ohne besondere Frömmigkeit. Ein Ritual des bewussten Vergessens und gleichermaßen auch der Buße. Vermutlich hatte es ihm den Ruf eingebracht, ein frommer Mann zu sein.
    Doch gerade jetzt war er keinesfalls gottesfürchtig. Die Furcht selbst wurde vom Instinkt überschattet, der ihn im Griff hatte. Er

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