Schwur des Blutes
ihrem stand, gab eine weitere Ziffernfolge ein und griff den Schlüssel zum Aufbewahrungsraum. Zum Glück hatte sie nie Probleme gehabt, sich Zahlen oder Formeln zu merken. Nur Namen prägten sich schwerlich ein und beim Einkaufen wippte sie vor den Regalen auf den Ballen auf und ab und wusste einfach nicht, was im Kühlschrank fehlte. Wozu sich über Unnützes Gedanken machen? Sie aß, was auf den Tisch kam und gab es nichts, besorgte oder bestellte sie halt etwas oder hungerte. Wie auf Kommando knurrte ihr Magen, bravurös ausgelöst durch ihre dämlichen Grübeleien. Sam ließ sich in den Ledersessel fallen und vergrub den Kopf unter den Armen. Blöder Mist! Mist! Mist!
Ein seltsames Gefühl erfüllte ihr Herz; vertrieb sogar die Trauer. Sie schrak beinahe zusammen, derart intensiv war es. Als streichelte jemand ihre Seele. Das tönte bescheuert. Sie richtete sich auf, streckte den Rücken. Sie hatte sich sicher nur eine Arterie eingeklemmt. Sam kreiste mit den Schultern. Verspannt, aber nicht der Grund. Schlug das Ding in ihrer Brust etwa kräftiger? Himmel, das konnte einem ja Angst einjagen … schon wieder … wenn es nicht eine so barmherzige, wohlige Empfindung wäre. Eine Umarmung, ein Sog.
Samantha sprang auf, stieß den Stuhl zurück und sah sich rasch in dem leeren Büro um. „Chris?“, hauchte sie ins Nichts und drückte die Faust auf den Brustkorb. Sam fasste sich an den Kopf und lachte hysterisch auf. Sie hatte doch überhaupt keine Droge eingeworfen … Niemand außer ihr war hier. Und dennoch, sie spürte etwas!
Mit vier Sprüngen erreichte sie die Fensterfront und öffnete ungestüm die Verriegelung der Balkontür. Sie hängte sich über die Brüstung und atmete tief durch. Die Abgase, der Verkehrslärm und der Smog würden sie wieder auf den Boden zurückholen. Sie erblickte die monströse Leuchtreklame ihres Ladens, die an dem Balkongeländer hing. Die Anordnung der Leuchtdioden, die den Schriftzug ‚ExtremE’ mit kleinen feuerwerksähnlichen Explosionen bildeten, war eine ihrer Ideen. Sie schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe, sog bewusst langsam Luft ein und stieß sie aus. Besser? Es musste besser werden, doch das tat es nicht. Es vibrierte wie eine zarte Aufregung, ein Näherkommen von etwas Gewaltigem, etwas Unaussprechlichem, ein Aufwallen ihres Blutes. Es kam ihr vage bekannt vor, ohne zu wissen, woher. Das wirkte einfach nur unheimlich. Mit den Toten mochte sie nicht in Berührung kommen.
Sam trat zurück in das Büro und stürmte in den Raum, in dem sie das Klettermaterial aufbewahrten. Sie wollte so schnell wie möglich ganz weit weg.
~~
Timothy verharrte auf der Auffahrt zum Landhaus und nahm Witterung auf. Sein Puls beruhigte sich, als er Jonas und den ‚Silver Angel‘ Ny’lane an ihren Gerüchen erkannte. Er ging weiter, bog um eine sanfte Kurve. Vor der Haustür stand eine futuristische Höllenmaschine in silberschwarz – wie sollte es auch anders sein – und eine Mercedes Limousine. Er hatte sich nach der Hochzeit zurückgezogen, seitdem war einige Zeit verstrichen und wahrscheinlich wollten seine Freunde einfach nach ihm sehen. Seine Beine stockten, als wäre es nicht sein Gedanke, sondern die Äußerung eines Gegenübers, die ihn überraschte. Seine Freunde …?
Timothy beugte sich unter dem mit Rosen überrankten Torbogen hindurch, der in den Garten führte. Er kannte die zwei doch überhaupt nicht. Erst Mitte Januar dieses Jahres hatte er mit Elena-Joyce New Orleans verlassen und war nach San Francisco zurückgekehrt. Vor einem Monat lernte er Jonas aufgrund der Liaison zwischen Josephine und Alexander kennen. Und von Ny’lane waren ihm hauptsächlich Gerüchte bekannt, die ihn umrankten wie Efeu und Prunkwinden seine Gartenmöbel. Sie titulierten ihn als stinkreichen Eigentümer eines Blutklubs, nimmersatten Tribor und brutalen Outsider. Dass Jonas und er seit Dekaden befreundet waren, schien eine Tatsache zu sein, von der nur wenige Kenntnis besaßen. Das Warum hätte ihn interessiert. Die einzige Parallele ihrer Lebensläufe, von der er Wissen trug, stellte die Abhängigkeit von weiblichem Blut dar, aus der sich Jonas mit Ciras Hilfe nun endgültig befreit hatte. Vielleicht sah er deshalb zu dem Reinblüter auf? Er würdigte Jonas’ Leistung. Deswegen waren sie noch lange keine dicken Kumpel.
Er war stehen geblieben. Der verwilderte Garten spiegelte sein Leben wider und hielt es ihm endlich klar vor Augen. Ebenso wenig wie er Freunde hatte, kannte er
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