Science Fiction Almanach 1981
herum. Es gab da Musik, und im Wind erklang ein zischendes Geräusch. Die Szene war hell und weit entfernt, wie ein Bild, das zum Leben erwacht ist.
Millicent sagte: „Da drinnen sehe ich Leute.“
„Wo?“
Die Szene fuhr auf sie zu. Sie schwebten wie Vögel über einem Ring. Darin waren Menschen, sechs an der Zahl, drei Männer und drei Frauen, die in Silberkostümen und mit la n gen, wippenden Federn in allen Farben des Regenbogens einen Drahtseilakt vorführten. Sie waren gut.
„Aber wo ist denn das Publikum?“ fragte Ricky. Sie s a hen zu dem Schimmern in der Luft hin.
„Vielleicht sind sie unsichtbar – wie er“, sagte Millicent. A ngelo glaubte nicht, daß er unsichtbar war. Hinter dem verschwommenen Glanz spürte er eine Gestalt, seine echte Gestalt, die sich gegen die Metallwand aufrollte und wieder entfaltete.
„Hast du uns hierhergebracht, damit wir in einem Zirkus auftreten?“ fragte er.
„Ja.“
„Ein Zirkus der Sterne. So gut sind wir nicht. Das weißt du doch. Warum hast du nicht die fliegenden Wallendas en t führt?“
„Eure Nummer ist viel interessanter“, sagte Marvel, „nach unseren Maßstäben.“
Tony stand da, die Hände in die Hüften gestemmt. „Mensch, du spinnst ja“, sagte er. „Ich trete doch nicht für irgendeinen Penner auf, den ich nicht einmal sehen kann. Nimm uns jetzt und bring uns heim.“ Lynellen nickte.
Hinter dem Glanz erschien ein Körper und gefror lan g sam aus der Luft. Über ihnen ragten Kopf und Körper einer Schlange. Der riesige Schwanz schwebte über ihnen, die Zunge zuckte aus dem gigantischen Maul mit den krummen Zähnen, rote Augen, vernunftbegabt und eiskalt und gedu l dig wie das Dunkel zwischen den Sternen, sahen sie an. „Sssstill! Ihr bleibt“, sagte er. Susie verbarg ihr Gesicht in dem Stuhl.
„Wie lange?“ flüsterte Lynellen.
Die Schlange sagte nichts.
A ngelo spürte in sich eine zerreißende Übelkeit. „Wir müssen bleiben“, sagte er. „Aber du kannst uns nicht dazu zwingen aufzutreten. Du bringst uns zurück, wenn ihr es müde geworden seid, uns zu füttern.“
Das zahnbewehrte Maul ging weit auf. „Wie kommssst du darauf, daßßßß wir euch füttern?“
Das Programm geht vor dem Spiralmuster der Sterne los. Ricky schlägt die Baßtrommel, und Tony und Lynellen und A ngelo und Susie fliegen unter der minimalen Andeutung eines Zelts. Ein Publikum klatscht. Marvel steht in der M a nege. „Sind sie nicht GROSSARTIG, meine Damen und Herren?“ ruft seine tiefe Stimme. Das aber ist eine Illusion, die allein für ihre Köpfe da ist. Wenn sie genau hinsehen, dann können sie den riesigen, breiten Schlangenkopf und den Skorpionenschwanz erkennen. Sie sehen ihn jedoch ebensowenig genau an wie das Publikum.
Nach dem Programm gehen sie durch einen Park zu ihren Wohnwagen zurück. Der Wind trägt ihnen die Geräusche des Zirkus zu. Aber es gibt keinen Wind. Auch der Orion, der sich über den Himmel schiebt, ist eine Illusion. Nie b e wegt er sich wirklich. Ihre Nächte haben nie einen Mond. Die Fremden haben sich nie die Mühe gemacht, für sie einen Mond hinzuzaubern.
„Nächste Woche“, sagt Lynellen, „treten wir in Cleveland auf.“ Oder in Des Moines oder in Toledo. Chicago sagt sie nie. A ngelo stimmt ihr zu. Die Zeit vergeht. Sie essen und trinken, schlafen und schlafen miteinander, streiten sich und versöhnen sich wieder.
Zeit aber gibt es nicht im Zirkus. Monate sind vergangen, oder sind es vielleicht Jahre? „Ich bitte Marvel um eine G e haltserhöhung“, scherzt Lynellen.
Manchmal glauben sie unter der riesigen Illusion des gr o ßen Zelts Menschen zu erkennen. Ricky schwört, daß er schon Clowns gesehen hat. Sie haben aber noch nie andere Wesen in der Manege getroffen. Die Artisten der anderen Auftritte sehen nie zu ihnen hinüber.
A ngelo macht sich Gedanken über die blauen Eidechse n leute, die er manchmal in einer benachbarten Manege zu sehen glaubt. Sie kennen jedoch nur sich selbst und das ri e sige Schlangengeschöpf, das sie noch immer Marvel ne n nen. Das Universum ist sehr klein geworden. Gab es da wirklich einmal einen Ort, der Chicago hieß, einen Planeten namens Erde, eine sanfte Löwin namens Lila? A ngelo weiß es nicht mehr sicher. Er träumt von ihnen, aber das sind vie l leicht wirklich nur Träume. Die Sterne hängen wie rote A u gen über ihnen und beobachten sie. Das Pfeifen des Winds ist vielleicht Gelächter … oder Verachtung … oder Applaus. Sie wissen es nicht.
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