Science Fiction Almanach 1981
Jetzt gab es nichts mehr als Dunkelheit und Stille, genauso wie es auf dem Mond sein mußte. Nur die Geräusche ihres eigenen Körpers. Vorher hatte sie versucht zu schlafen, aber sie hatte es nicht fertiggebracht, und so ließ die Migräne, nachdem sie vorbei war, einen Bodensatz zurück, einen u n angenehmen Druck hinter den Augen und eine Überem p findlichkeit ihrer Nerven.
Sie überlegte sich, ob Jim eine Scheidung in Erwägung gezogen hatte. Sie war sich nicht sicher, ob die Vorstellung für sie seltsam war oder nicht. Sie waren seit langer Zeit nicht mehr glücklich miteinander, aber von einer Trennung hatte bisher noch niemand gesprochen. Sie machten einfach weiter, nicht so, als seien sie zufrieden, sondern einfach so, als gäbe es keine andere Möglichkeit.
Amalie machte die Augen auf. Sie überlegte sich, daß sie wohl eingeschlafen war. Das Haus war unnatürlich ruhig. Draußen wurde der Abend immer grauer und verwandelte sich in die Nacht.
„Carmen?“ Die Luft schien sich um den Namen zu wi c keln und den Laut in sich aufzunehmen. Amalie stand mit einem unguten Gefühl auf. Sie fühlte sich, als sei der Rest der Welt verschwunden und nur sie sei übriggeblieben.
„Carmen?“ Amalie stand vor Carmens Tür. Ihre Hand zögerte in der Luft über dem Griff. Sie ließ ihre Hand gegen die Tür fallen, wobei ihre Knöchel das Holz in einem leic h ten Klopfen streiften. „Liebling? Möchtest du den Tisch fürs Essen decken?“
Keine Antwort. Mit der Vermutung, daß Carmen nach draußen gegangen war, machte sie die Tür auf.
Carmen saß auf dem Boden in dem üblichen Kreis von Puppen und Spielzeugen, von denen jedes seinen eigenen Platz hatte. Aber um die Spielzeuge herum standen in einem größeren Kreis sechs große, seltsame Vögel. Sie hatten gr o ße, runde Köpfe mit Gesichtern – menschlichen Gesichtern, nicht mit Schnäbeln wie Vögel – und mächtige Körper mit schwarzen und weißen Federn. Sie waren im Stehen größer als Carmen, die in ihrer Mitte saß.
Amalie stand von dem Anblick erstarrt in der Tür. Die Vögel sahen sie nicht an; Carmen bewegte sich nicht. Am a lie zerbrach das unbewegliche Bild, indem sie stolpernd in das Zimmer rannte.
„Weg! Weg!“ Sie rief es mit rauher Stimme, außer Atem, als wolle sie Enten oder laute Hunde wegjagen, die ihr Kind belästigten. Sie fuchtelte mit ihren Armen in ihrer Richtung herum, aber sie bewegten sich nicht, bis schließlich ein schwingender Arm einen Vogel berührte und sie von der Berührung zurückzuckte. Der Vogel war kalt, unnatürlich, tödlich kalt. Der Vogel drehte seinen Kopf und sah sie an. Danach fingen alle Vögel an, sich zu bewegen; sie bildeten eine Reihe und watschelten an ihr vorbei – sie zuckte zurück – durch die Tür und den Flur hinunter. Als der letzte der V ö gel das Zimmer verlassen hatte, sah Carmen zu ihrer Mutter hoch.
„Gibt es jetzt Essen?“
Amalie starrte sie an.
„Gibt es jetzt Essen?“
„Carmen … was …?“
„Gibt es jetzt Essen?“ Carmen hob ihren Arm und sah auf die Micky-Maus-Uhr an ihrem Handgelenk. Sie setzte einen Finger darauf und fühlte ihren Puls. „Sieben Uhr. Gibt es jetzt Essen?“
Amalie nickte hilflos, und auch Carmen nickte. Sie hob ihre Spielzeuge von den Kreisen auf und brachte sie in die Gestelle, wo sie hingehörten.
Sie waren im Wohnzimmer. Amalie vermied es, in den Raum zu sehen, als sie daran vorbeiging, aber sie wußte, daß sie da waren. Während sie die Lammkoteletts briet und eine Büchse Mais in einen Topf leerte, war sie sich der Vögel im Wohnzimmer bewußt – wie sie ihre Wachträume träumten, im Schlaf, aber doch bei vollem Bewußtsein –, ebenso wie sie sich Carmens bewußt war, die einen Meter entfernt pr ä zise drei Gedecke auf den Tisch stellte.
Als sie an diesem Abend zu Bett ging, waren die Vögel immer noch im Wohnzimmer und warteten auf das, was sie erwarteten. Amalie lag im Bett und konnte nicht schlafen. Nach einiger Zeit hörte sie Jims Auto in der Einfahrt, hörte, wie er hereinkam und sich einen Drink machte. Darauf fol g te eine lange Stille. Er sagte nichts und schaltete das Licht nicht an, als er hereinkam in das Schlafzimmer, und sie gab vor, schon zu schlafen. Durch ihre Augenlider beobachtete sie Jim, wie er am Fenster stand und eine lange Zeit auf den vo l len Mond und die leere Straße hinausstarrte. Danach zog er die Vorhänge zu (aber sie fielen wieder auf, so daß ein Mon d strahl auf den Boden fiel), zog sich aus und
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