Science Fiction Almanach 1981
kletterte auf der anderen Seite ins Bett. Amalie lag bewegungslos und hörte zu, wie seine Atemzüge tiefer und gleichmäßiger wurden.
Sie lag auf der Seite, das Gesicht von Jim weg und der Tür zugewandt. Ihre Augen waren offen, und so sah sie, wie die Vögel hereinkamen. Die Tür war nur angelehnt, und der erste Vogel stieß sie einfach nur auf, und dann kamen sie alle herein.
Amalie fing zu zittern an. Die Vögel gingen lautlos; (es war kein Geräusch zu hören, wie man das von ihren Krallen, die am Teppich zogen, hätte erwarten sollen) um das Bett herum zu Jims Seite, und sie wußte, daß sie sich dort wieder in einem Halbkreis aufstellen, dastehen und ihren Mann a n sehen würden.
Sie rückte näher zu ihm und versuchte, nicht zu wi m mern. Sie erschütterte ihn mit ihrem Zittern, und sie drückte sich gegen seinen Rücken und wünschte die Vögel weg. Jim bewegte sich und murmelte. Ohne sich herumzudrehen, reichte er nach ihr, tätschelte sie und sagte mit einer abw e senden Stimme: „Schlaf, schlaf.“
Sie wollte ihn aufwecken, um ihn dazu zu bringen, sich die Vögel anzusehen, aber sie hatte Angst davor, daß er sie nicht sehen würde, wenn sie das machte. Sie aber wären noch immer da.
Sie mußte eingeschlafen sein, denn das Zimmer war dunkler, und der Mond schien jetzt nicht mehr durch das Fenster, sondern auf die andere Seite des Hauses.
Sie setzte sich auf und schaute über Jim hinweg in die a n dere Ecke des Zimmers. Die Vögel waren weg; da kauerten keine dunklen Gestalten mehr, zumindest keine dunklen G e stalten, die sie nicht als Möbelstücke identifizieren konnte.
Einen Augenblick lang spürte sie Erleichterung. Doch dann war sie angespannter als vorher. Carmen.
Carmen war nicht in ihrem Zimmer. Das Bett war leer. Wieder war das Fenster offen. Dieses Mal rannte Amalie zum Fenster und kletterte hinaus. Sie kratzte sich dabei eines der nackten Beine an der Backsteinmauer des Hauses auf.
„Carmen!“
Die sechs Vögel standen eng beieinander und warteten darauf, daß Carmen mit ihrem Tanz für den Mond fertig würde. Sie würden sie zum Mond wegtragen, das verriet ihre Stellung, wo sie allein und frei sein würde, wo sie lose Felsstücke ordentlich aufeinanderschichten könnte, ohne daß sie jemand störte, ohne daß jemand ihre Rituale unterbrach. Sie würden eine Familie sein, die nichts von ihr verlangte, und sie mit ihnen in den Felsen nisten lassen, ohne ihr Fr a gen zu stellen.
„Nein!“ rief Amalie voller Angst. „Nehmt sie nicht mit, bitte!“
Carmen tanzte weiter, ohne sich um sie zu kümmern. E i ner der Vögel drehte seinen Kopf und sah Amalie an, und sie schaute in sein totes, kaltes Gesicht, sein Sphinx-Gesicht, und begriff, daß sie es mißverstanden hatte. Nicht wegen Carmen waren sie gekommen, sondern wegen ihr.
Jim war auf dem Mond gewesen und nie zurückgeko m men. Carmen brauchte nicht hin. Nur Amalie sehnte sich nach dem Mond und konnte ihn nicht erreichen.
Die Vögel kamen zu ihr, und als sie näherrückten, spürte sie die Kälte, die von ihren Körpern ausging, genauso wie Wärme von den Körpern von Erdentieren ausgestrahlt wird. Sie standen in einer Reihe dicht vor ihr. Sie erinnerten Am a lie daran, wie Schneewittchen in dem Märchen quer über sieben Zwergenbetten schlief, die sie zusammengeschoben hatte, damit ihr Riesenkörper hineinpaßte. Amalie legte sich auf sie und schlang ihre Arme um einen Hals.
Die Vögel fingen an zu laufen, und ihre Körper holperten unter ihr wie die einer Reihe Kamele. Kurz bevor sie abh o ben (sie schwankten dabei wie ein Wasserbett), fing Amalie an zu befürchten, sie würden nicht zusammenbleiben kö n nen, daß sie sich trennen und sie fallen lassen würden. Sie klammerte sich fest.
Die Vögel flogen weiter auf den Mond zu. Sie bewegten ihre Flügel gefährlich langsam. Die Vögel, die auf dem Mond leben, haben beim Fliegen keine große Schwerkraft zu überwinden. Sie fliegen langsam und gleiten durch einen Weltraum ohne Wind. Die Vögel, die auf dem Mond leben, sind allein und haben keine Partner. Sie verlassen sich auf niemanden als auf sich selbst; normalerweise fliegen sie nicht in Gruppen, und ihr seltenes Zweckdenken bleibt nie lange in ihrem Bewußtsein.
So verloren die Vögel, die gegen die erdrückende Schw e re der Erde fliegen mußten und die von Amalies Gewicht noch zusätzlich belastet wurden, das Interesse an ihr und begannen sich zu trennen. Sie schlugen nun heftiger mit den Flügeln und wandten sich
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