Science Fiction Almanach 1981
jetzt unbedingt von dem Turm herunter, zurück in die wogende Menge, zurück in die Sicherheit der Mensche n massen in der Innenstadt.
Tanith Lee
Spötter gegen Götter
Eines gelben Morgens trafen drei Frauen aus der religiösen Schwesternschaft des Donsar am rosenfarbigen Strand von Skorm auf ein ausgesetztes weibliches Kind, das sie darau f hin in ihre Gemeinde aufnahmen. Dieses unselige Kind war ich.
Der Lebenswandel dieser Schwesternschaft, die sich die Bräute Donsars nannten, war einfach, wenn auch widersi n nig.
Ständige Reinigungen, Gebete und Selbstkasteiung waren praktisch die einzigen Beschäftigungen, die ihnen gestattet waren. Wollten die Bräute etwas lesen, so durften sie sich zu ihrer Entspannung den Schriften des Eifers widmen – Tag e bücher früherer Bewohner, die eingehend die Wunden b e schrieben, die sie sich in ihrer Ekstase selbst beigebracht hatten, sowie die Liebe, die sie für ihren Gott empfanden. Der Schlüssel zur Erfüllung in der Gemeinde war die Qual. Daher wurden körperliche Gebrechen eher als Hilfe denn als Hindernis angesehen – Zahnweh, Bauchschmerzen oder Knochenbrüche waren Anlaß für Glückwünsche und Fro h locken.
Donsar, eine unbedeutende Gottheit, zeigte sich in der Form eines kleinen, flackernden Lichts über dem Altar. Der mangelnden Bedeutung dieses Gottes entsprechend war das Licht nie besonders hell, und manchmal ging es sogar ganz aus. In diesem Fall wurden alle von ihrer derzeitigen B e schäftigung – Wäsche, Verwundung, Geheul (oder, was w e niger wichtig war, aus dem Bett) – weg zur Versammlung gerufen, um sich mit wortreichen Gebeten und endlosen G e sängen abzumühen, bis das Licht wieder seine ursprüngliche dürftige Helligkeit erreicht hatte.
An diesem Ort wuchs ich auf und wußte über mich selbst nichts, bis mein ganzes Wesen sich gegen eine so unverä n derliche und sinnlose Existenz auflehnte.
Sie nannten mich ‚Wahrheit’, und so fragte ich sie schon in frühem Alter: „Wer bin ich?“
„Nun, du bist ein Findling, Wahrheit, den Donsar in se i ner grenzenlosen Güte vor unsere Tür geführt hat.“
„Was soll ich also tun?“
„Tun? Na, das Leben, das dir Donsar erhalten hat, damit verbringen, Donsar dafür zu danken. Was denn sonst?“
So war es. Was denn sonst?
Als ich zwölf Jahre alt war und von der Oberbraut kräftig durchgeprügelt worden war, weil man auf meiner Kutte e i nen Fleck von der Fischsuppe gefunden hatte, lief ich weg. Ich kletterte schleimige Porzellanfelsen hoch und stolperte zwischen glasgrünen Tümpeln herum, bis ich schließlich mit einem Knöchel in einer der zahlreichen Fallen steckenblieb, die die Schwestern für diesen Zweck ausgelegt hatten.
Ich wurde in den Tempel zurückgebracht, die Peitsche wurde herbeigeholt, und wieder wurde ich auf meinen Ir r tum aufmerksam gemacht. Die Schwestern begannen ein besorgtes Zwiegespräch.
„Armes Kind. Sie hat noch nicht genug gelitten und kennt daher das Glück der Schmerzen nicht. Alle ihre Zähne sind gesund, und ihre Gliedmaßen sind kräftig.“
Die eine oder andere Schwester machte daraufhin das großzügige Angebot, mir einen Zahn auszuschlagen oder ein Handgelenk zu brechen, aber die Oberbraut lehnte diese Angebote in strengem Ton ab und sagte, daß solche Ere i gnisse in der Macht Donsars stünden, und ihm dürfe man nicht vorgreifen.
„Vielleicht ist ihr Haar der Grund des Übels“, vermutete eine Braut. „Dieser orangenfarbige Ton kann nicht gesund sein; er ist ein Anzeichen für Leidenschaftlichkeit und Wi l lensstärke.“
Sie rasierten mir also den Kopf und sperrten mich drei Tage lang in meine Zelle ein. Danach stellten sie bei mir eine große Veränderung fest. In einem Delirium von Zorn und Reue hatte ich mir den einzig möglichen Plan zurech t gelegt: Ich mußte mich anpassen. Von diesem Tag an zeigte ich nur noch die größte Unterwürfigkeit und bemerkte, daß ich mit Vorsicht und Schläue weit mehr erreichen konnte als mit offener Rebellion.
Durch die geschickte Verwendung von Kaminruß unter meinen Augen konnte ich den Anschein erwecken, als hätte ich ganze Nächte im Gebet verbracht, obwohl ich in Wir k lichkeit geschlafen hatte, und mit verdünnter roter Tinte – die ich angeblich zur Niederschrift meines Büßerinnentag e buchs brauchte – ließen sich ohne Schwierigkeiten Striche ziehen, die für die trübäugigen Schwestern genau wie Pei t schenmale aussahen. Ich erbat mir Zeit, um allein in meiner Zelle über
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