Science Fiction Almanach 1982

allem aber sind die Nume eine hochentwickelte Kulturnation, die den Menschen sowohl technisch als auch moralisch/sozial weit voraus sind. Ihre Weltanschauung, nach der sie streng leben, ist die „Numenheit“.
    Einmal wird direkt enthüllt, auf wen diese Numenheit zurückgeht: „Über der Tür leuchtete die lebensgroße Büste Imm’s, des unsterblichen Philosophen der Martier, der ihnen die Lehre von der Numenheit enthüllt hatte.“ Dies ist ein klarer Hinweis auf Immanuel Kant. 30
    Die Numenheit steht für das Handeln nach Maßgabe der praktischen Vernunft. Ausschlaggebend dafür ist die Gesinnungsethik; moralisch ist eine Handlung nur dann, wenn sie vom guten Wollen – auf den Inhalt der Handlung kommt es nicht an – getragen wird und auf der Basis eines Pflichtbewußtsein erfordernden allgemeinen Sittengesetzes vorgenommen wird und nicht nur auf lediglich eigenem Vorteil bedachter „Neigung“. Von daher ist beispielsweise eine aus Neigung vorgenommene Geldspende an einen Bettler nicht moralisch, denn „täte (der Menschenfreund) die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdann hat sie allererst ihren echten moralischen Wert. „ 31
    Die Menschen haben bei Laßwitz mit den Nume, die die Numenheit (Sittlichkeit) streng befolgen, wegen ihrer unterlegenen Moral Schwierigkeiten, ein Konflikt, der bestimmend für den ganzen Roman ist. Die Nume haben nämlich die Absicht, Rohstoffquellen der Erde zu nutzen, und es stellt sich für sie die Frage, wie mit den Menschen umzugehen ist; sind die Menschen gleichberechtigt oder muß man ihnen die Numenheit aufzwingen, sie also kolonialisieren?
    Der Konflikt wird vorprogrammiert in einem Gespräch, das Se (eine Martierin) mit Saltner führt. Se sagt: „Sie verstehen eben unter, Willen’ allerlei Gemütskräfte, die bloß individuelle Triebe sind, gegen diesen Willen können wir sie festhalten … 32 Ihr Wille ist nichts gegen den unseren, nur das Motiv des Willens gilt. Gibt es eine gemeinsame Bestimmung der sittlichen Würde zwischen Numen und Menschen, so werden sie Freiheit haben, gibt es für Menschen nur Motive der Lust, so werden sie uns nie widerstehen. „ 33
    Der hochentwickelten Ethik der Nume entspricht ihre hochentwickelte Technik. Der Mars ist ein soziales und technologisches Utopia. Es gibt rollende Straßen, Wolkenkratzer und transportable Häuser, Lichtdepeschen, ein Retrospektiv, mit dem vergangene Ereignisse sichtbar gemacht werden können, Photozellen, schließlich wird die gesamte Energie aus Sonnenzellen gewonnen, und Nahrungsmittel werden synthetisch hergestellt.
    Äußerst bedeutsam ist dabei, daß der Kulturfortschritt der Nume primär durch Wissenschaft erreicht wurde, und nicht, wie noch in der abstrakten Utopie „Apoikis“, durch bloßen Bewußtseinsfortschritt:
    „Steine in Brot! Eiweißstoffe und Kohlenhydrate aus Fels und Boden, aus Luft und Wasser ohne Vermittlung der Pflanzenzelle! – Das war die Kunst und Wissenschaft gewesen, wodurch Martier sich von dem niedrigen Kulturstandpunkte des Ackerbaus emanzipiert und sich zu unmittelbaren Söhnen der Sonne gemacht hatten. „ 34 (Im übrigen ist es eine Glanzleistung der Kürzungstechnik, den letzteren Satz wegzulassen: Scheffler-Ausgabe 69).
    Die Frage, ob die Menschen kulturfähig sind oder nicht und ob ihnen die Numenheit auf friedlichem Wege vermittelt werden kann, wird im weiteren zum Streitpunkt auf dem Mars. Nach einem unglücklichen bewaffneten Konflikt mit einem englischen Kriegsschiff bilden sich auf dem Mars zwei gegensätzliche Lager: die Pro-Menschlichen (Philobaten) und die Anti-Menschlichen (Antibaten).
    Nachdem die Engländer nicht bereit sind, sich für ihre Kriegshandlung zu entschuldigen und in vernünftige Verhandlungen einzutreten, werden sie militärisch entmachtet.
    Das Weltgefüge gerät durcheinander: die Türken ermorden kurzerhand alle Europäer, worauf eine europäische Flotte Konstantinopel beschießt. Diese barbarischen Aktionen entsetzen die Nume, die Antibaten setzen sich durch und errichten ein Protektorat über Europa. Die europäischen Mächte einschließlich des deutschen Kaiserreichs in seiner Herrlichkeit werden entwaffnet und müssen sich fügen. Sie sind ihren „Neigungen“ gefolgt und haben sich damit in den Augen der Nume diskreditiert.
    Die Segnungen der Numenheit werden im folgenden den Menschen mehr oder weniger aufgezwungen. Viele Menschen sehen ein, daß die Numenheit gut und richtig ist, wollen sie sich aber nicht