Science Fiction Almanach 1982
Nullpunkt des Seins. Erzählung aus dem Jahre 2371 „ 15 und „Gegen das Weltgesetz. Erzählung aus dem Jahre 3877“ (1878).
Sie sind „handlungsreich, melodramatisch, zeigen eine naive Begeisterung für die Technik und schwanken im Ton zwischen Ernst und ausgelassenem Spaß“. 16
Kurzum: Sie sind ziemlich unlesbar, erlebten auch nur eine kleine Auflage und sind nicht typisch für den Autor. Allerdings zeichnen sich schon Strukturen ab, die später in ausgereifterer Form zu Themata Laßwitz’ werden, nämlich ethische Konfliktsituationen in einer technisierten Welt.
Dies exemplarisch für „Nullpunkt des Seins“ nachvollzogen: Hier gibt es „Nüchterne“, der reinen Wissenschaft verpflichtete Zeitgenossen, und die „Innigen“, einen Konflikt zwischen Denken und Fühlen also, personifiziert in Oxygen für die ersteren und Magnet für die letzteren, die beide die gleiche Frau lieben (Aromasia).
In einem Streitgespräch behauptet Oxygen: Der moderne Mensch „begreift, daß Freiheit nur bestehen kann in vernünftiger Unfreiheit, daß nur die gehorsame Unterwerfung unter das Gesetz frei zu machen vermag“. 17
Die gehorsame Unterwerfung unter das Gesetz, die Pflicht, ergibt sich aus Kants Theorie des Menschen als empirisches Naturwesen (Person) und intelligibles Geisteswesen (Persönlichkeit). Der Widerspruch zwischen äußerem Naturzwang und innerer Geistesfreiheit wird bei Kant durch die freie Entscheidung zum inneren Zwang, der Pflicht (dem kategorischen Imperativ „Du sollst“) gelöst, die gleichzeitig über das individuelle hinausgeht und Sozialverpflichtung ist: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde . „ 18
Nur durch die Pflicht kann der Mensch so seine Freiheit gewinnen, das ist praktische Vernunft.
Durch die strenge Trennung von Person und Persönlichkeit, Natur und Idee, entsteht nach Bloch eine materialistisch-idealistische Koalition „mit beibehaltenem Materialismus im Sein, abstrakt-postulativen Idealismus im Sollen“. 19
Genau dieses Phänomen zeichnet auch wesentliche Geschichten von Kurd Laßwitz aus, ansatzweise auch „Nullpunkt des Seins“. Der Materialismus im Sein, in der Natur, ist über Technik literarisch entwickelt: Luftvelozipeds, Wetterfabrikanten, Luftdroschken, Luftspritzen (als Waffe) und durch den „nüchternen“ Oxygen personifiziert. Dagegen personifiziert sich der abstrakt-postulative Idealismus in Magnet, der Wissenschaft zwar anerkennt, aber das Ideal als höchsten Sinn sieht, das sogar alle sozialen Probleme zu lösen vermag. „Sie (die sozialen Probleme) konnten nur überwunden werden durch ein Ideal, wie es in jenen herrlichen Zeiten aufflammte und mit der Macht einer neuen Religion die Geister umfing, einer Religion, welche alle unhaltbaren und unzeitgemäßen Formen und Dogmen ausschied und jenen unsterblichen Kern des Christentums enthüllte, den ein Kant, ein Schiller vorahnend empfunden. „ 20 Und schließlich läßt Laßwitz Magnet auch die Frage der Freiheit entscheiden: „Ja, Oxygen, hier ist Freiheit! Ich bin frei, bin es durch die Macht des Ideals, bin es durch meine dichtende Kunst, die mich über die Schranken der Welt und meiner räumlichen und zeitlichen Existenz hinausträgt. „ 21
Insgesamt ist diese Kurzgeschichte sowohl literarisch als auch philosophisch unreif, literarisch, weil es sich eher um erzählerische Fetzen in einem hauptsächlich philosophischen Streitgespräch handelt, philosophisch, weil hier Verklärung der Dichtkunst, des „Innerlichen“, des Ideals sogar gegen Kant betrieben wird, weil dessen zentrale Kategorie, die Pflicht als sittliche Entscheidung und einzig Freiheit erschaffende, nicht ausreichend thematisiert wird – ganz im Gegensatz zum späteren reifen Hauptwerk Auf zwei Planeten. Allerdings ist der Weg vorgezeichnet, um den es Laßwitz in seinem Hauptwerk gehen wird, nämlich – wie schon gesagt – um die Darstellung ethischer Konflikte in einer technisierten Welt.
Doch zunächst dürfen, um das Wirken des vernachlässigten Laßwitz nicht wieder zu vernachlässigen, noch die eigentlich wichtigen Kurzgeschichten nicht unerwähnt bleiben. „Auf der Seifenblase“ (1887) ist ein Mikrokosmos-Stück, in dem ein Glagli (für Galilei) den Seifenblasencharakter der Mikrokosmoswelt erkennt und dafür wegen Ketzerei angeklagt wird; „Aladins Wunderlampe“ (1888)
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