Science Fiction Anthologie Band 3 - Die Vierziger Jahre 1
Stunde voll Geschäftigkeit; verrückte Kritzeleien auf Fetzen von Notizpapier – und nachdem Scott die Aufzeichnungen sorgfältig studiert hatte, ordnete er seine Steine, Maschinenteilchen, Kerzenstummel und verschiedenen Krimskrams immer wieder aufs neue. Jeden Tag räumte das Dienstmädchen sie weg, und jeden Tag begann Scott von vorn.
Er ließ sich dazu herab, seinem verblüfften und erstaunten Vater, der wenig Sinn und Zweck in diesem Spiel sah, ein wenig zu erklären.
„Aber warum muß der Kiesel ausgerechnet hier hin?“ „Er ist hart und rund, Vati. Er gehört dort hin.“ „Der hier ist auch hart und rund.“
„Nun, aber der ist mit Vaseline eingerieben. Wenn man einmal soweit ist, kann man einfach kein hartes, rundes Ding mehr sehen.“
„Was kommt jetzt? Die Kerze da?“
Scott sah ihn verärgert an. „Die kommt erst am Schluß. Als nächstes ist der Eisenring dran.“
Paradine kam das vor wie die gewissenhafte Auskundschaftung eines Waldes, Hinweiszeichen in einem Labyrinth. Aber da war schon wieder der Zufallsfaktor. Logik – normale Logik – versagte gegenüber Scotts Absichten, als er das Gerümpel auf diese Art ordnete.
Paradine ging hinaus. Über seine Schulter sah er, wie Scott ein zerknülltes Papier und einen Bleistift aus seiner Tasche zog und zu Emma ging, die grübelnd in einer Ecke hockte.
Nun …
Jane war mit Onkel Harry zum Mittagessen gegangen, und an diesem heißen Sommertag konnte man wenig mehr tun als Zeitung lesen. Paradine ließ sich am kühlsten Fleck, den er finden konnte, mit einem Magazin nieder und vertiefte sich in ein paar Comics.
Eine Stunde später riß ihn Fußgetrappel oben im Haus aus seinem Halbschlaf. Scotts Stimme schrie triumphierend: „Das ist es, Schnecke! Mach weiter …“
Stirnrunzelnd stand Paradine auf. Als er in die Diele kam, klingelte das Telefon. Jane hatte versprochen anzurufen …
Seine Hand lag auf dem Hörer, als Emmas dünne Stimme vor Freude quietschte. Paradine verzog das Gesicht. Was, zum Teufel, war da oben los?
Scott schrie: „Aufgepaßt, Schnecke. So geht’s!“
Paradine, dessen Nerven auf geradezu lächerliche Weise gereizt waren, vergaß das Klingeln des Telefons und raste die Treppe hinauf.
Die Tür von Scotts Zimmer stand offen.
Die Kinder waren im Begriff zu verschwinden.
Sie lösten sich auf – wie dicker Rauch im Wind, oder eher wie mit einer Bewegung in einem Zerrspiegel.
Sie gingen Hand in Hand in eine Richtung, die Paradine nicht begreifen konnte.
Und als er noch blinzelnd auf der Türschwelle stand, waren sie fort.
„Emma!“ schrie er mit trockener Kehle. „Scotty!“
Auf dem Teppich lag ein Muster aus einigen kleinen Gegenständen; Kieselsteine, ein Eisenring – und sonstiger Krimskrams. Ein Zufallsmuster. Ein zerknüllter Papierfetzen wehte auf Paradine zu.
Mit einer automatischen Bewegung hob er ihn auf.
„Kinder, wo seid ihr denn? Versteckt euch nicht … – Emma! SCOTTY!“
Unten hörte das schrille, monotone Klingeln des Telefons auf. Paradine schaute auf das Papier in seiner Hand.
Es war eine Seite, die aus einem Buch gerissen war; auf ihr waren wahllose Unterstreichungen und unleserliche Randnotizen, Emmas sinnlose Kritzelei. Eine gereimte Strophe war so sehr unterstrichen und übermalt, daß sie fast nicht mehr lesbar war, aber Paradine kannte Alice hinter den Spiegeln ziemlich gut. Sein Gedächtnis sagte ihm die Worte …
Verdaustig wars und glasse Wieben
Rotterten gorkicht im Gemank;
Gar elump war der Pluckerwank,
Und die gabben Schweisel trieben * .
Idiotisch dachte er: Das Gedicht von Humpty Dumpty ** gab die Erklärung. Gemank ist der Grasfleck rund um eine Sonnenuhr. Eine Sonnenuhr. Zeit – es hat etwas mit Zeit zu tun. Vor langer Zeit hatte Scotty ihn gefragt, was ein Gemank ist. Symbolismus.
„Verdaustig wars …“
Eine perfekte mathematische Formel, die alle Bedingungen enthielt; in einem Symbolzusammenhang, den die Kinder schließlich verstanden hatten. Das Gerümpel auf dem Boden. Die Wieben mußten glasse gemacht werden – Vaseline? –, und sie mußten in einer ganz bestimmten Ordnung hingelegt werden, dann konnten sie gorkicht rottern.
Wahnsinn!
Aber für Emma und Scott war es kein Wahnsinn gewesen. Sie dachten anders. Sie benutzten X-Logik. Die Anmerkungen, die Emma auf der Buchseite gemacht hatte –
*
* 1898), Alice hinter den Spiegeln, übersetzt von Christian Enzensberger, Frankfurt a, M. 1963 (Bibliothek der Romane im Insel Verlag). Das Original lautet:
Twa brillig, and
Weitere Kostenlose Bücher