Science Fiction Jahrbuch 1983
stöhnte.
Das Superman-Syndrom geriet völlig außer Kontrolle. Allein in diesem Hospital hier befanden sich 758 festgestellte Fälle des Superman-Syndroms, dachte er niedergeschlagen, und Gott allein wußte, wie viele Superirre noch in der Aufnahme- und Registrierabteilung warteten.
„Warum? Warum? Warum?“ murmelte Funck und strich sich mit der Hand durch sein zusehends schütter werdendes Haar.
Doch natürlich kannte er den grundlegenden, unausweichlichen, unentrinnbaren und unleugbaren Grund: Die Welt war voller Clark Kents. Voller schwächlicher, schüchterner Männer, die sich nicht durchsetzen konnten. Geborene Nieten. Aber natürlich konnte keiner zugeben, daß er eine Niete war. Jede Maus sieht sich gerne als Löwen. Jeder hat eine Geheimidentität, ein Traumbild seiner selbst, das über phantastische Kräfte verfügt und mit normalerweise unlösbaren Situationen fertig wird …
Sogar Psychiater hatten Geheimidentitäten, dachte Funck abstrakt. Denn wer anders als Superschrumpf sollte mit einem ganzen Irrenhaus voller Supermänner fertig werden?
Superschrumpf! Mächtiger als ein tobender Psychopath! Imstande, Neurosen schon nach einer Sitzung zu erkennen! Schneller als Freud! Fähiger als Adler! Der, als Dr. Felix Funck verkleidet, der erkahlende Boß des Superman-Syndrom-Hospitals einer Großstadtmetropole, einen nie endenden Kampf gegen Anpassung, Neo-Freudianer, Honorarabteilung und den American Way kämpft!
Fasse dich, Funk, fasse dich wieder!
Selbst in den Besten unter uns lebt ein kleiner Clark Kent, dachte Funck.
Daher war Superman schon längst zum Bestandteil der Kultur geworden. Superman und sein Alter Ego, Clark Kent, waren das lebende Beispiel für das menschliche Dilemma (Kent) und das daraus resultierende Wunschdenken (der Mann aus Stahl). Es war normal, daß Kinder den synthetischen Mythos in ihre kleinen, offenen Egos assimilierten. Aber es war auch normal, daß sie darüber hinauswuchsen. Ein paar unbedeutende schizoide Tendenzen in der Kindheit störten niemanden. Alle Kinder haben einen kleinen Sprung in der Schüssel, dachte Funck weise.
Wenn doch nur jemand Andy Warhol erschossen hätte, bevor es zu spät war!
Das hat die ganze stinkende Dose voller Würmer geöffnet, dachte Funck – den Pop-Art-Unsinn. Plötzlich waren Comics nicht mehr nur belächelte Kinderlektüre. Plötzlich waren Comics Kunst – mit einem großen, fettgedruckten „K“ am Anfang. Sie waren hip, sie waren in, sogenannte Erwachsene schämten sich plötzlich nicht mehr, sie ihren Bälgern wegzunehmen und selbst zu lesen.
In ganz Amerika machten junge, schüchterne und schwächliche Männer einen Schritt zurück und durchlebten ihre Kindheit und Jugend neu. Tausende schwächlicher, schüchterner Versager identifizierten sich plötzlich wieder mit dem schüchternen, schwächlichen Reporter des Daily Planet von Metropolis. Es war wie eine neuerliche Heimkehr. Superman war die perfekte Wunscherfüllungsgestalt. Niemand zweifelte daran, daß er 007 pulverisieren, mit einem Sprung über einen Massenverkehrsunfall auf dem Long Island Expressway springen und mit seinem Röntgenblick Frauen unter die Kleider sehen konnte. Und, voilà, das Superman-Syndrom!
Erster Schritt: Das schwächliche, schüchterne Opfer identifizierte sich mit dem Prototyp aller Schlemiels, nämlich Clark Kent.
Zweiter Schritt: Sie sahen sich mehr und mehr als Clark Kent und träumten davon, selbst Superman zu sein.
Dritter Schritt: Ein Augenblick großer Frustration, ein Korb von der Lois-Lane-Gestalt, ein Anschiß von einem in Wut geratenen Perry-White-Surrogat, und schon
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