Science Fiction Jahrbuch 1983
schnappte etwas ein, und sie befanden sich in den Krallen des Superman-Syndroms.
Normalerweise fing alles harmlos an. Das Opfer kaufte sich lange Baumwollunterwäsche, färbte sie blau ein und nähte ein rotes „S“ auf das Hemd. Diese Kluft trug es gelegentlich, besonders in Streß-Zeiten, unter der Straßenkleidung.
Doch wenn der erste fatale Schritt erst einmal getan war, dann war das Superman-Syndrom unvermeidbar. Das Opfer ging bald dazu über, das Kostüm immer zu tragen. Früher oder später wurden Streß und Härten der Realität untragbar, dann folgte eine Nachahmungsphase. Während dieser Phase färbte das Opfer sein Haar superman-stahlblau, kaufte sich einen Anzug mit doppelten Aufschlägen, trug eine Brille mit Stahlgestell, vergaß, wer es war, und erwachte schließlich eines Morgens mit allen Erinnerungen aus den Comics. Er war Clark Kent, und er mußte nach Metropolis zurück!
Es war schon schlimm genug, daß Tausende von Irren frei herumliefen und sich für Clark Kent hielten. Das Entsetzliche war, daß Clark Kent eben der Mann aus Stahl war. Was bedeutete, daß Tausende erwachsene Männer von Hochhäusern sprangen, mit bloßen Händen Lokomotiven anhalten und bewaffnete Verbrecher auf offener Straße stellen wollten. Viele fanden auch andere Methoden, Harakiri zu begehen.
Schlimmer noch war, daß inzwischen so viele Superirre herumliefen, daß jeder im Land Superman mindestens einmal gesehen hatte. Und viele der Irren konnten kleinere Erfolge verbuchen – sie retteten eine alte Dame im Park vor Halbstarken oder vereitelten einen schlecht organisierten Bankraub einfach nur durch ihr Erscheinen –, so daß es mittlerweile fast unmöglich geworden war, die Leute davon zu überzeugen, daß es keinen Superman gab.
Und je mehr Leute sich in dem Glauben wiegten, daß es ihn doch gab, desto mehr verfielen dem Superman-Syndrom, und desto mehr wurden der festen Überzeugung …
Funck stöhnte laut. Es gab sogar einen bekannten Fernsehansager, der einmal scherzhaft gesagt hatte, es könnte Superman vielleicht doch geben, und eigentlich könnten jene Leute die Irren sein, die das für falsch hielten.
Konnte das sein, fragte sich Funck. Wenn geistige Gesundheit, der Geisteszustand der Mehrheit der Bevölkerung im Land, zur Norm erhoben wurde und die Mehrheit der Bevölkerung an Superman glaubte, dann war vielleicht wirklich die Minderheit, die nicht an ihn glauben wollte, verrückt …
Wenn die Irren die Normalen waren und die Normalen eigentlich die Irren und die Irren waren die Mehrheit, dann mußte die Wahrheit lauten …
„Fasse dich, Funck!“ rief Dr. Felix Funck laut. „Es gibt keinen Superman! Es gibt keinen Superman!“
Funck versteckte die Comics wieder in der Schublade und drückte einen Knopf am Interkom.
„Sie können den nächsten Superdeppen her einschicken, Miss Jones“, sagte er.
Die süße Miss Jones schien zu erröten, während sie den nächsten Patienten in Dr. Funcks Büro führte.
An dem hier war etwas Besonderes, erkannte Funck augenblicklich. Er trug die übliche Stahlbrille und auch den üblichen Anzug mit den doppelten Aufschlägen, aber an ihm sah das alles fast gut aus. Er war gebaut wie ein Kleiderschrank, und die blauschwarze Haarfarbe schien fast echt. Funck roch Geld. Zu den Superkräften von Superschrumpf gehörte es ja schließlich, daß er augenblicklich das Bankkonto eines potentiellen Kunden abschätzen konnte. Vielleicht bestand die Möglichkeit, sich den hier als Privatpatienten zu krallen …
„Setzen Sie sich, Mr. Kent“, sagte Funck. „Sie sind doch Clark Kent oder nicht?“
Clark Kent nahm auf der Stuhlkante Platz, sein breiter Rücken war stocksteif.
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