Science Fiction Jahrbuch 1983
werden sie alle streiten, kämpfen, sich gegenseitig töten. Ich kann hier flach liegenbleiben, bis sie weggehen. Bis heute abend müßten die Vögel in Scaravel angekommen sein … Selbst wenn die volle Hälfte von ihnen durch Kälte, Sturmwind und Raubtiere umkommt, wird der Rest die Leute von Scaravel aufmerksam machen, ihnen klarmachen, daß hier etwas nicht stimmt …
Sie aß etwas von dem Brot und trank ein wenig von dem sauren Wein, verzog das Gesicht und wünschte, es wäre Wasser oder Milch. Nach einer Weile hörte sie Schritte im Stall unter sich – aber es war nur jemand, der ein Pferd hinausführte, und sie entspannte sich.
Das hohe Kreischen begann in ihrem Verstand.
Blut, Blut, ich will Blut haben …
Nein, sagte sie sich. Nicht jetzt. Sie würde sich hier still verbergen, bis sie weggingen, es bestand keine Notwendigkeit für weiteres Blutvergießen. Führerlos würden sich Narthens Männer nie darüber einigen, wie sie diese Burg halten sollten, und wenn die Retter aus Scaravel ankamen, würde es eine schnelle Arbeit sein, die wenigen loszuwerden, die geblieben waren …
Mich dürstet! Ich will Blut haben!
Mhari biß die Zähne zusammen, zwang die Stimme nieder, doch gegen ihren Willen glitt ihre Hand an den Schwertgriff … Er lag in ihrer Hand, und das hohe Kreischen erfüllte ihren Verstand, erfüllte die ganze Welt …
Zieh mich nie, außer wenn ich Blut trinken darf! Du hast geschworen, du zahlst meinen Preis in Blut, Blut, Blutblutblut … Das Summen war so schrill, daß Mhari dachte, es würde sie taub machen. Schluchzend stellte sie fest, daß sie auf den Füßen war, daß sich ihre Schritte auf die Leiter zubewegten …
„Nein! O ihr Götter, nein, nein …“ schrie sie halblaut, doch das Schwert schien zu zerren, an ihr zu ziehen, bis sie fühlte, sie würde kopfüber durch die Falltür stürzen. Blindlings bewegten sich ihre Füße vor, suchten ohne Wollen Trittstellen auf der Leiter, führten sie in den Hof hinunter, zu den streitenden Männern. Das Schwert blitzte …
Ein Mann lag tot zu ihren Füßen, dann noch einer. Sie fühlte, wie sie sprang, fühlte ihre Arme sich bewegen, töten ohne Denken oder Wollen. Ein Mann heulte, fiel vor ihre Füße. Ein anderer, den Arm vom Körper gehackt, lag schreiend und schreiend und blutend da, bis seine Schreie verstummten. Mhari fühlte, wie sie würgte, wandte sich ab und erbrach sich, aber der hohe, kreisende Klang des Schwertes speiste, füllte ihren ganzen Verstand und die ganze Welt aus …
Der unsichtbare Tod blitzte, spielte, schlug immer wieder zu …
Dann drehten sich die Banditen vor Panik schreiend um und rannten wild aus dem Hof, einer stürzte über den anderen. Manche flohen zu Fuß, andere stolperten zu Pferden und flohen so, hatten die Beute vergessen, hatten alles vergessen, bis auf den unsichtbaren Tod, der aus dem Nichts kam, um sie zu vernichten. Dann war der Hof leergefegt, und ein junges Mädchen lag schluchzend, ausgebrannt und krank auf den Pflastersteinen im fallenden Schnee, die Hände geballt, nutzlos würgend, und da war kein Geräusch bis auf das satte Murmeln des Schwertes.
Nach langer Zeit stand sie auf und ging in die Burg hinein, wo sich ein paar der überlebenden Diener, die vor dem neuen Herrn ihren Kopf gebeugt hatten, um ihr Leben zu retten, vor ihr verbeugten, und ging in ihr Schlaf gemach, um die Körper von Narthen und seinem Helfershelfer herauszuziehen und zu begraben.
Spät an diesem Abend flog ein Botenvogel in den Hof, und Mhari, die das leise Schreien hörte, kam und fütterte den Vogel und nahm die winzige Schriftrolle von seinem Bein, auf der geschrieben stand:
Falls in Sain Scarp noch jemand lebt: Wir kommen, wir werden am zweiten Tagesanbruch von heute an bei euch sein.
Ruyven Delleray
Mhari weinte, als sie
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