Science Fiction Jahrbuch 1983
keinerlei Nachsicht mehr zu üben ist, weil er gemeingefährliche politische und moralische Auswirkungen zeige. Dieses Urteil ist im Kern – im übrigen ein Vorwurf, der den PR-Heften oft gemacht wird – diskriminierend. Es werden umstandslos die Leser mit den Befunden identifiziert, die das kritische Bewußtsein am Text erheben kann. Lernt man einen wirklichen Leser von Perry Rhodan kennen, staunt man über die komplexe und intensive Rezeptionsgeschichte, man merkt, ohne daß dadurch den Texten ein literarischer Rang zugesprochen werden soll, daß man einen Leser vor sich hat, einen Leser, für den es außer der Wirklichkeit noch eine zweite gibt.
Bei dem Leser, den ich kennenlernte, wußte ich gleich, an wen er mich erinnerte. Er schickte auch gleich voraus, daß seine Lektüre politischer Kritik nicht standhalten könne, er habe da andere Ansichten; auch verschiedene Themen, wie die Darstellung der Frauen, das Verhältnis zum Krieg seien unmöglich behandelt. Aber darauf kam es ihm nicht an. Interessant fand er immerhin, daß sich Perry Rhodan im Laufe der Zeit sehr geändert habe, der alleinherrschende Superheld sei er schon lange nicht mehr.
Ich nahm den PR-Fan als Literaturliebhaber wahr, er unterschied sich habituell von seinen Mathematikkommilitonen, er konnte etwas erzählen, er hatte für seine Phantasie einen Gegenstand gefunden.
Kurt S. kennt alle PR-Hefte, er kennt sich in diesem Endlosroman aus, kommentiert Einzelheiten in ihrem Gesamtbezug, durchschaut die Handlungsstrategien, spekuliert über den Fortgang. Zweifelt man an einer These, bringt er am nächsten Tag ein Heft mit und zitiert Stellen. Er weiß anscheinend alles, was es über PR zu wissen gibt, er erinnert sich an Leserbriefe zu einzelnen Fragen, erkennt die Autoren an Eigenheiten ihrer Texte: Für mich sind alle Hefte von demselben geschrieben. Kurt S. dagegen ist sich sicher, daß „dieses“ Wort bei Scheer nie fällt, daß „diese“ Stelle typisch Voltz ist.
Das besessene textkundige Spezialistentum dieses PR-Lesers erinnerte mich an die Eigenart der Arno Schmidt Fans, die auf der Ebene der Literatur durchaus vergleichbar Wissen mit dem Ziel horten, nicht hinter den Texten zurückzubleiben, für die eine Quelle der Leselust das Entschlüsseln von Anspielungen, Verweisen usw. ist. Zu den politischen, sozialen Ansichten ihres Meisters pflegen sie den Kopf zu schütteln, ebenfalls zum Frauenbild usw. Vergleichbar scheint mir, jedenfalls kann ich so Kurt S. verstehen, daß gerade die Konzentration auf ein Werk, die Identifikation mit ihm, daß gerade diese Lektürefixierung dem Rezipienten Eigenständigkeit ermöglicht, Aneignungsspielraum, subjektive Leselust: Er kennt sich aus in einer fiktionalen Welt und findet doch immer Neues, wenn etwas undurchsichtig ist, kann er darauf vertrauen, daß es eine Lösung gibt. Vieles hat er selbst im Lauf der Zeit aufgeklärt. Die Lektüre als heimeliges Rätselspiel.
Ich möchte irgendwo anfangen, was es mit der Wendung „Hinter den Materiequellen“ auf sich habe, frage ich. Wie soll ich Ihnen das erklären? Es läßt sich offenbar nicht in zwei Sätzen sagen. Er beginnt zu erzählen, führt Personen ein, erläutert Sachverhalte, ungewohnte Eigenschaften und Möglichkeiten von Personen und Technik, er greift zurück, muß eine Disposition konstruieren, jeder Satz zieht neue Erklärungen nach sich: Es ist nämlich auch immer viel im Unklaren gelassen, z.B. bei den Materiequellen: Das Unwissen um sie ist ein Teil der Spannung, der offenen Erzählgegenwart, es wird umkreist, wer beteiligt ist, welche Auswirkungen auf wen wann wo
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