Scream
raus schwebte hoch über der steil abfallenden Klippe ein Balkon mit Blick auf den Atlantik. Taylors Mutter hatte bis zu ihrem unerwarteten Tod vor vier Jahren hier allein gelebt. Weil Taylor nicht wollte, dass das Haus, in dem sie und ihre fünf Schwestern aufgewachsen waren, an Fremde verkauft wurde, hatte sie das Eigentum übernommen und ihre älteren Geschwister ausbezahlt, um dann nach Los Angeles zurückzukehren, wo sie großen Erfolg als Fotografin hatte.
Die Fenster mit den wärmeisolierenden Doppelglasscheiben waren neu. Jack hatte die Läden frisch gestrichen – dunkelgrün – und im vergangenen Herbst den Speicher zu einem großen Arbeitszimmer mit hellem Ahornboden ausgebaut, samt Dunkelkammer, Loggia und einem hohen Erkerfenster, vor dem ein Schreibtisch aus Eiche stand.
Die schmale gepflasterte Einfahrt säumten zu beiden Seiten junge Eichen. Der Rasensprinkler schaltete sich ein, als Jack seinen zweitürigen Pontiac Grand Am, ein geleastes Fahrzeug mit verbeulter Stoßstange und ohne Klimaanlage, hinter einem blaugrauen Volvo mit Massachusetts-Kennzeichen abstellte. Er hatte das Auto noch nie gesehen.
Er stieg aus und ging auf die Eingangstür zu. Taylors Nachbarn grillten. Die halbwüchsigen Söhne fuhren Skateboard auf einer selbst gebauten Holzrampe vor dem Haus. Aus einem großen Ghettoblaster dröhnte ein schrecklicher Rap. Jack sah, dass die Tür hinter der Fliegengittertür unverschlossen war, und trat ein.
Im Flur hingen Farbfotos der Kriegsschauplätze, die Taylor aufgesucht hatte. Als er sie Weihnachten vor drei Jahren bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung des Eastern Yacht Clubs kennengelernt hatte, war sie gerade von einer dreimonatigen Reise durch Bosnien zurückgekehrt, wo sie selbst unter Beschuss geraten und dabei gewesen war, als eine ehemalige Schulfreundin, die ihr Leben der Tätigkeit als Missionarin gewidmet hatte, von einer Granate getötet worden war. Dort hatte Taylor jenes Foto geschossen, dem sie ihren Ruhm verdankte: eine Krankenschwester, die mit einem schreienden Kind im Arm aus den Flammen eines bombardierten Krankenhauses flieht. In jüngster Zeit aber arbeitete Taylor nur noch als Modefotografin. Sie wurde nachgefragt von Filmstudios, etlichen hochkarätigen Schauspielern, Regisseuren und Musikern. Die Presse bezeichnete sie als Nachfolgerin von Herb Ritts.
Die Luft im Haus war warm und duftete nach brennendem Holz. Über Lautsprecher, die in sämtlichen Zimmern in die Decke eingelassen waren, tönte leise Ray Charles. Jack ging in die Küche, die ebenfalls vor kurzem renoviert und teuer ausgebaut worden war (was Jack komisch fand, da Taylors Kochversuche wissenschaftlichen Experimenten glichen, die meist misslangen). Auf dem Tisch stand eine entkorkte Flasche Merlot. Die Tür zum Balkon stand offen, doch Taylor war nirgends zu sehen. Er wollte gerade nach oben gehen, als er hinter sich ihr Lachen hörte.
Mit strahlendem, betörendem Lächeln kam sie in die Küche. Sie hielt ein leeres Weinglas in der Hand und strich sich mit der anderen eine Strähne ihres schulterlangen blonden Haares hinters Ohr. Die dünne weiße Baumwollbluse war nur in der Mitte zugeknöpft und zeigte viel gebräunte, glatte Haut von Dekolleté und Bauch. Dazu trug sie eine schwarze Lycrahose, die sich um ihre schlanken langen Beine schmiegte und mit weitem Schlag über die schwarzen Schuhe fiel.
»He, Kiddo«, grüßte sie heiter.
Sichtlich angetan von ihrem Anblick, schaute er sie an und lächelte. Sie war eins achtzig groß und hatte einen mit Aerobic und Hanteltraining in Form gehaltenen Körper. Ihre blauen Augen waren warm und sanft, und dieses Lächeln ließ wie immer alle Sorgen von ihm abfallen. Wie schon seine verstorbene Frau schaffte es auch Taylor im Handumdrehen, allen, die ihr gegenübertraten, das Gefühl zu vermitteln, etwas ganz Besonderes zu sein.
»Wir haben uns zwei Wochen nicht gesehen, und du hast mir nichts zu sagen?«, frotzelte sie.
»Wozu hast du dich so rausgeputzt? Gehen wir aus?«
»Ich bin tatsächlich verabredet und muss dich bitten, gleich wieder zu gehen. Es kommt ein Mann, der schrecklich eifersüchtig ist, einer mit dicken Muskeln, aber ohne Hirn.« Sie zwinkerte ihm zu.
»Darf ich dir noch einen Kuss geben, bevor ich gehe?«
Sie dachte kurz darüber nach. »Na schön, aber beeil dich lieber.«
Sie stellte das Glas ab, schlang ihre Arme um seinen Hals und griff ihm mit den Fingern in die Haare. Ihre Lippen waren warm und weich und schmeckten nach
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