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Scriptum

Scriptum

Titel: Scriptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Khoury
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gelebt, bevor es überflutet wurde, und hat sein ganzes Leben in dieser Gegend verbracht. Wenn irgendjemand weiß, wo die
     Kirche steht, dann ist er es.»
    Reilly wartete ab, bis Okan für einen Moment den Raum verließ, ehe er sich an Tess wandte. «Das ist doch Wahnsinn. Wir sollten
     Profis herholen.»
    «Du vergisst eines: Ich bin ein Profi», versetzte sie energisch. «Ich habe so was schon hundertmal gemacht.»
    «Ja, aber nicht so. Außerdem behagt es mir nicht, dass wir beide da runtergehen sollen und niemand so lange oben bleibt und
     die Augen offen hält.»
    «Wir müssen es versuchen. Komm schon, du hast doch selbst gesagt, hier ist niemand in der Nähe. Wir sind Vance zuvorgekommen.»
     Sie schmiegte sich an ihn, und ihr Gesicht strahlte erwartungsvoll. «Wir können jetzt nicht Halt machen. Nicht, nachdem wir
     so dicht dran sind.»
    «Ein Tauchgang», gab er nach, «dann telefonieren wir.»
    Sie war bereits auf dem Weg zur Tür. «Dann wollen wir mal dafür sorgen, dass wir auch etwas zu berichten haben.»
     
    Sie trugen die Ausrüstung die Stiege hoch und packten alles auf die Ladefläche des Pajero. Okan lud Tess ein, in seinem verrosteten
     weißen Fiat mitzufahren, und forderte Reilly auf, ihm mit dem alten Mann zu folgen. Reilly warf einen Blickzu Tess, die ihm verschwörerisch zuzwinkerte, ehe sie ihre langen Beine in den Fußraum des kleinen Wagens zwängte, zur offensichtlichen
     Begeisterung des Ingenieurs.
    Der Pajero folgte Okans Wagen etwa achthundert Meter weit über eine asphaltierte Zufahrtsstraße, bis der Ingenieur abbog und
     vor einem mit Maschendraht abgezäunten Grundstück hielt, auf dem Betonklötze, Drainagerohre und Dutzende leerer Ölfässer lagerten,
     lauter Zeug, wie es nach Abschluss eines Bauprojektes zurückbleibt. Auf dem Grundstück schlurfte ein alter Mann mit traditioneller
     Kopfbedeckung und Gewand umher. Es überraschte Reilly keineswegs, als Okan den Schrotthändler als seinen Onkel Rüstem vorstellte.
    Rüstem schenkte ihnen ein zahnloses Lächeln, dann lauschte er aufmerksam seinem Neffen, der eine Litanei von Fragen auf ihn
     abfeuerte. Schließlich antwortete der alte Mann unter heftigem Armgefuchtel und nachdrücklichem Kopfnicken.
    Okan wandte sich an Tess und Reilly. «Mein Onkel erinnert sich noch gut an den Ort. Er hat viele Jahre lang seine Ziegen dorthin
     getrieben. Er sagt, von der Kirche steht nur noch ein Teil.» Schulterzuckend setzte er hinzu: «Wenigstens war es so, bevor
     das Tal geflutet wurde. Bei der Kirche war ein Brunnen und daneben ein   …» Okan suchte nach dem richtigen Wort. «Die tote Wurzel von einem sehr großen Baum.»
    «Ein Baumstumpf», half Tess.
    «Stumpf, ja, genau. Da war ein Stumpf von einem Weidenbaum.»
    Tess sah Reilly an. Ihre Augen funkelten erwartungsvoll.
    «Nun, was denkst du? Würde es sich lohnen, einen Blick darauf zu werfen?», fragte er trocken.
    «Wenn du darauf bestehst», versetzte sie schmunzelnd.
    Sie bedankten sich bei Okan und dem alten Mann. Nachdem der Ingenieur noch einen wehmütigen Blick auf Tess geworfen hatte,
     fuhren die beiden davon. Wenig später steckten Tess und Reilly in den Tauchanzügen und hatten ihre Ausrüstung ans Ufer geschleppt,
     wo einige kleine Ruderboote lagen. Sie bestiegen eines, Rüstem stieß das Boot ab, kletterte hastig selbst hinein und begann
     mit sicheren Schlägen zu rudern wie jemand, der das sein Leben lang getan hatte.
    Tess nutzte die Zeit, um Reilly die Routineprozeduren ins Gedächtnis zu rufen, die er nur noch vage in Erinnerung hatte; seine
     Taucherfahrung beschränkte sich auf einen Kurzurlaub auf den Cayman-Inseln vier Jahre zuvor. Etwa in der Mitte des Sees und
     gut einen Kilometer von der Staumauer entfernt hörte Rüstem auf zu rudern. Er murmelte etwas vor sich hin, blickte mit zusammengekniffenen
     Augen erst zu einer Kuppe in der Nähe, dann zu einer anderen und noch einer weiteren und brachte das Boot sorgfältig in Position,
     wobei er eines der Ruder als Paddel benutzte. Reilly spülte inzwischen die beiden Tauchermasken im Wasser.
    «Was glaubst du, was wir dort unten finden werden?», fragte er.
    «Ich weiß es nicht.» Tess blickte ernst in den See. «Erst mal hoffe ich einfach, dass wir überhaupt etwas finden.»
    Sie sahen einander einen Moment lang schweigend in die Augen. Dann wurde ihnen bewusst, dass der alte Mann das Boot nun auf
     der Stelle hielt und mit einem triumphierenden Strahlen seine zahnlosen Kiefer entblößte. Er

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