Scriptum
Sand.
Reilly versuchte, die Finger in den Spalt zu schieben, doch Auftrieb und mangelnde Hebelwirkung hinderten ihn daran, die Platte
hochzudrücken. Tess sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Sie schaute sich nach einem geeigneten Werkzeug um und entdeckte einige
verbogene Metallstücke, die aus einer der Säulen ragten. Sie schwamm hinauf und zerrte an einer der rostigen Stangen, bis
sie sich in einer Wolke aus winzigen Steinpartikeln löste. Schnell kehrte sie zum Boden der Kirche zurück. Reilly schob ein
Ende der Metallstange in den Spalt, dann stützten sie sich gemeinsam auf das andere Ende.
Plötzlich ertönte ein Knirschen. Nicht von unten, von oben. Tess riss den Kopf hoch: Von der Stelle, wo sie das Metall herausgezogen
hatte, hatten sich kleine Steinbrocken gelöst. Lag es an der Bewegung des Wassers, oder geriet der obere Säulenteil tatsächlich
ins Rutschen? Alarmiert sah sie zu Reilly. Er deutete auf die Stange, noch einen Versuch. Sie nickte, dann drückten sie erneut
mit aller Kraft auf den Hebel. Diesmal bewegte sich die Platte ein winziges Stück, doch eine Hand passte noch immer nicht
darunter. Wieder stützten sie sich auf die Stange, die Platte neigte sich leicht und klappte dann unvermittelt ein Stück hoch.
Eine riesigeLuftblase schoss auf sie zu. Sie streifte Tess und Reilly und schwebte nach oben, wo sie durch ein Loch im zerstörten Kirchendach
entschwand.
Wieder das Knirschen.
Der obere Teil der schiefen Säule rutschte nun ganz eindeutig zur Seite. Sie hatte wohl das empfindliche Gleichgewicht gestört,
als sie die Stange gewaltsam herausriss. Über ihr zerplatzten Staubwolken in lautlosen Explosionen. Sie drehte sich zu Reilly,
der mit der Steinplatte hantierte und nach unten zeigte. Sie streckte die Hand aus und zuckte zusammen, als ihr eine Szene
aus einem alten Film durch den Kopf schoss, in der eine gefräßige Muräne nach einem Taucher schnappte. Tess verdrängte das
Bild, verdrängte auch den Gedanken an das hässliche Geräusch und die bröckelnden Mauern und tastete verzweifelt im Grab umher.
Sie stieß auf etwas Unförmiges und sah Reilly auffordernd an. Er legte die Hände fester um die Stange und drückte erneut,
ein weiterer großer Schwall Blasen entwich. Tess zog behutsam an dem Gegenstand und versuchte, ihn unbeschadet durch die Öffnung
zu holen.
Reilly drückte ein letztes Mal. Die Platte neigte sich so weit, dass der Gegenstand hindurchpasste. Es war offenbar ein Lederbeutel
mit langem Riemen, etwa so groß wie ein kleiner Rucksack, und er schien einen festen, schweren Gegenstand zu enthalten. Beim
Herausziehen gab die Stange plötzlich nach, die Grabplatte senkte sich und verfehlte den Beutel nur knapp. Mit einem dumpfen
Knall schlug sie auf, und eine Wolke aus Schlick wirbelte hoch. Über ihnen knirschte es erneut, dann schabte Stein auf Stein,
als der oberste Säulenteil langsam von der Basis rutschte und das ganze Dach mit sich riss. Tess und Reilly blickten sich
panischan und wandten sich zum Portal, doch Tess kam nicht los. Der Riemen des Beutels hatte sich unter der Platte verfangen.
Sie riss verzweifelt daran, während Reilly vergeblich nach einem neuen Hebel suchte. Trümmer lösten sich und sanken in einer
immer dichter werdenden Wolke aus Schlick auf sie herab. Tess riss erneut am Riemen und schüttelte verzweifelt den Kopf. Es
war sinnlos. Die Kirche würde jeden Moment über ihnen einstürzen, sie mussten weg. Sollte sie den Beutel zurücklassen? Ihre
Finger umklammerten das Leder. So schnell würde sie nicht aufgeben.
Reilly ließ sich rasch sinken, fuhr mit den Fingern um die Kante der Grabplatte, stellte sich breitbeinig darüber und riss
mit einem gewaltigen Ruck an dem Stein. Ein großer Deckenbalken landete nur Zentimeter neben seinem Bein, die Platte bewegte
sich minimal, aber es reichte, um den Riemen herauszuziehen. Er deutete auf das Portal, und sie schwammen eilig los, während
um sie herum Dachteile herunterregneten. Sie glitten im Slalom um Säulen und fallende Steine und gelangten durch das Portal
in klareres Wasser.
Kurz ließen sie sich treiben, während hinter ihnen die Kirche in sich zusammenstürzte und riesige Mauerstücke und Steine im
trüben, brodelnden Wasser einen Tanz aufführten. Tess’ Herz pochte noch immer wild. Sie zwang sich, ruhiger zu atmen, da ihr
Luftvorrat zur Neige ging und ein langer, allmählicher Aufstieg vor ihnen lag. Sie fragte sich, ob das,
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