Scriptum
sie zu sich herabwinkten.
Eine plötzliche Bewegung zu ihrer Linken zog ihren Blick an. Ein Schwarm kleiner Fische, der in den Algenbüscheln nach Nahrung
gesucht hatte, stob auseinander und huschte nach allen Seiten in die Schatten davon. Als Tess wieder nach vorne sah, stellte
sie fest, dass sich zwischen den Häusern ein weiter Platz auftat. Beim Näherkommen erkannte sie den geschwärzten Stumpf eines
mächtigen Baumes, aus dem noch ein paar halbverrottete Überreste dünner Zweige ragten. Die Weide. Unwillkürlich stieß Tess
einen Schwall Luftblasen aus, die in einer kleinen Wolke aus ihrem Atemregler nach oben sprudelten. Ihre Augen suchten fieberhaft
die Umgebung ab. Die gesuchte Stelle musste ganz in der Nähe sein. Gerade als Reilly sie einholte, entdeckte sie es: Nur wenige
Meter von dem Baumstumpf entfernt waren die verfallenen Überreste der steinernen Brunneneinfassung zu erkennen. Tess glitt
darauf zu und richtete den Strahl ihrer Lampe in die Finsternis jenseits des Brunnens. Tatsächlich: Düster und erhaben ragten
dort die Mauern der Kirche auf.
Tess warf einen Blick zu Reilly, der neben ihr im Wasserschwebte und offenbar ebenso beeindruckt war wie sie selbst. Mit ein paar kraftvollen Flossenschlägen steuerte sie abwärts
auf das hoch aufragende Bauwerk zu. Die Mauern waren mit Schlick überzogen, das Dach stark verfallen. Als sie den Lichtkegel
über die Wände gleiten ließ, stellte sie fest, dass sich die Kirchenruine in noch erheblich schlechterem Zustand befinden
musste als damals vor siebenhundert Jahren, als die Templer hier gelagert hatten.
Reilly im Gefolge, ließ Tess sich weiter sinken. Wie eine Schwalbe, die durch ein Scheunentor flog, glitt sie durch das Kirchenportal.
Das massive Tor hing schräg in den Angeln, sodass sie ungehindert hineingelangten. Im Inneren, fünf Meter über dem Boden schwebend,
schwammen sie an einer Unterwassergalerie aus Säulen vorbei, von denen einige umgestürzt waren. Dank der Mauern hatte sich
im Innenraum der Kirche nicht allzu viel Schlick angesammelt, der ihre Suche nach einer Grabplatte erschwert hätte. Seite
an Seite drangen Tess und Reilly weiter in die Ruine vor. Zu beiden Seiten des Lichtkegels, den die Taucherlampe warf, verloren
sich allerlei Nischen in unergründlicher Finsternis.
Tess blickte sich mit wild pochendem Herzen um und nahm all die schaurigen Formen und Schatten in sich auf. Nachdem die Dunkelheit
bereits das Portal hinter ihnen verschluckt hatte, gab sie Reilly ein Zeichen und stieß hinab bis auf den Grund. Er folgte
ihr. Dort unten lag eine gewaltige zertrümmerte Steinplatte, ein Teil des ehemaligen Altars, wie sie annahm. Der Stein war
völlig von Algen überwuchert, zwischen denen unzählige winzige Krebse umherkrochen. Tess warf einen Blick auf die Uhr und
signalisierte Reilly mit den ausgestreckten Fingern beider Hände, dass sie in zehn Minuten mit dem Aufstieg beginnen mussten.
In den Pressluftflaschenbefand sich nicht genügend Luft für einen langen Dekompressionsstopp.
Tess wusste, dass sie unmittelbar am Ziel waren. Sie glitt eine Handbreit über dem Boden der Kirche dahin und wischte behutsam
den Schlick beiseite, wobei sie sich bemühte, das Wasser nicht allzu sehr zu trüben. Keine Spur von Grabplatten. Nur kleinere
Steintrümmer und tiefer Schlick, durch den sich Aale schlängelten. Dann stieß Reilly sie an. Er versuchte etwas zu sagen,
doch seine Stimme war nur ein verzerrter metallischer Klang zwischen dem Sprudeln des Wassers, das aus seinem Mundstück drang.
Sie sah, wie er nach unten fasste und aus einer kleinen Nische ein wenig Sediment und Schutt entfernte. Auf dem Boden wurden
schwach ein paar eingravierte Lettern sichtbar: eine Grabplatte. Ihr Atem ging schneller. Sie fuhr die Buchstaben mit dem
Finger nach und entzifferte den Namen: Caio. Aufgeregt sah sie Reilly an, dessen Augen hinter der Tauchermaske zu leuchten
schienen. Mühsam und vorsichtig befreiten sie noch mehr Steinplatten von den Ablagerungen. Tess hörte das Blut in ihren Ohren
rauschen, als Buchstabe für Buchstabe weitere Namen zum Vorschein kamen. Und dann gab der Schlick das eine Wort frei:
Romiti.
Aimards Brief war echt. Die vom FBI nachgebaute Chiffriermaschine hatte funktioniert, und, was Tess besondere Befriedigung
verschaffte, sie war es, die die richtigen Schlüsse gezogen hatte.
Sie waren am Ziel.
KAPITEL 59
Rasch befreiten sie die Grabplatte von Trümmern und
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