Scriptum
fand ich sie eher enttäuschend.»
Sie schaute ihn unsicher an.
«Ich meine, was ihr macht, ist einfach nicht richtig. Ihr nehmt etwas Einzigartiges, etwas ganz Besonderes und reduziert es
auf den gröbsten Nenner.»
«Soll ich die Beweise einfach ignorieren?»
«Nein, aber wenn du immer nur das kleine Detail siehst, entgeht dir der Blick für das Ganze. Du verstehst nur Dinge, die wissenschaftlich
beweisbar sind. So sollte es aber nicht sein. Es geht nicht immer um Fakten und Analysen. Es geht auch um Gefühle. Um Inspiration,
um Weltanschauung, um eine Verbindung zu dem allen hier.» Er breitete die Arme aus und blickte sie eindringlich an. «Glaubst
du denn gar nicht daran?»
«Was ich glaube, tut nichts zur Sache.»
«Für mich schon. Wirklich, ich möchte es gern wissen. Glaubst du überhaupt nichts davon?»
Sie schaute zu Vance hinüber, der sie trotz der undurchdringlichen Finsternis zu beobachten schien. «Versteh mich nicht falsch,
Sean. Ich glaube durchaus, dass Jesus ein bedeutender Mensch war, einer der bedeutendsten Menschen aller Zeiten, ein inspirierter
Mann, der viele grundlegende Dinge formuliert hat. Ich halte seine Vision einer selbstlosen Gesellschaft, in der einer dem
anderen vertraut und hilft, für etwasganz Wunderbares. Er hat viel Gutes bewirkt, bis heute. Selbst Gandhi, der kein Christ war, sagte immer, er handle im Geiste
Jesu Christi. Er war ein außergewöhnlicher Mann, das steht fest – aber das gilt auch für Sokrates und Konfuzius. Und ich stimme
dir zu, dass seine Lehre von Liebe und Kameradschaft die Grundlage aller menschlichen Beziehungen bilden sollte. Aber war
er auch göttlich? Vielleicht kann man sagen, er habe eine Art göttlicher Weltsicht oder prophetischer Erleuchtung besessen.
Aber ich glaube nicht an Wunder und halte überhaupt nichts von diesen Wichtigtuern, die sich als Gottes Stellvertreter auf
Erden bezeichnen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Jesus sich seine Revolution ganz anders vorgestellt hat. Und es hätte
ihm kaum gefallen, wie aus seiner Lehre der dogmatische und bedrückende Glaube wurde, den wir heute kennen. Er war ein Freiheitskämpfer,
der die Autorität verachtete. Was für eine Ironie!»
«Die Welt ist groß», entgegnete Reilly. «Die Kirche ist das, was die Menschen im Laufe der Zeit aus ihr gemacht haben. Sie
ist eine Organisation, weil es nicht anders geht. Und Organisationen benötigen eine Machtstruktur, wie sonst sollte man die
Botschaft bewahren und verbreiten?»
«Überleg mal, wie albern alles geworden ist», entgegnete sie. «Hast du dir mal einen dieser Fernsehprediger angesehen? Das
ist wie eine Show in Vegas, ein Aufmarsch gehirnamputierter Scherzbolde. Für einen Scheck garantieren sie dir einen Platz
im Himmel. Ist das nicht traurig? Die Zahl der Kirchenbesucher sinkt ins Bodenlose, die Leute probieren alle möglichen Alternativen
aus von Yoga über Kabbala bis New Age. Sie suchen nach geistigen Impulsen, weil die Kirche so weit entfernt vom modernen Leben
ist, weil sie nicht weiß, was die Menschen heute brauchen –»
«Das stimmt natürlich, aber wir bewegen uns einfach zu schnell.» Reilly stand auf. «Zweitausend Jahre lang hatte das alles
durchaus Bedeutung. Erst in den letzten Jahrzehnten, in denen es zu diesen Schwindel erregenden Entwicklungen kam, hat sich
das geändert. Sicher, die Kirche hat nicht Schritt gehalten, das ist ein großes Problem. Aber das heißt doch nicht, dass wir
sie einfach hinter uns lassen sollten und stattdessen … ja, was eigentlich?»
Tess verzog das Gesicht. «Ich weiß nicht, vielleicht braucht man uns gar nicht mit dem Himmel zu ködern oder mit Hölle und
Verdammnis zu drohen, damit wir uns anständig benehmen. Womöglich wäre es gesünder, wenn die Menschen zur Abwechslung einmal
an sich selbst glaubten.»
«Ist das dein Ernst?»
Sie sah ihn eindringlich an, dann zuckte sie die Achseln. «Wie auch immer. Wir müssen ohnehin erst mal das Wrack finden und
sehen, was in der Schatulle ist.»
«Aber das ist eigentlich nicht unsere Aufgabe, oder?»
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. «Wie meinst du das?»
«Ich bin hergekommen, um Vance zu finden und in die Staaten zu bringen. Was immer da draußen sein mag: Es geht mich nichts
an.» Er spürte, dass er nicht ganz ehrlich war, verdrängte aber den Gedanken.
«Du willst also einfach aufhören?», stieß sie hervor und stand wütend auf.
«Komm schon, Tess, was erwartest
Weitere Kostenlose Bücher