Scriptum
hinein.
Im riesigen Foyer des Museums, der Großen Halle, wimmelte es bereits von grauhaarigen Männern und Schwindel erregend glamourösen
Frauen. Beim Anblick der vielen Smokings und Abendkleider überkam Tess leise Unsicherheit. Sie hatte Angst aufzufallen, einmal
wegen ihres doch recht schlichten Kleides, aber auch weil sie sich so unwohl dabei fühlte, als Teil der «feinen» Gesellschaft
wahrgenommen zu werden, einer Gesellschaft, die sie nicht im Mindesten interessierte.
Wenn Tess Aufsehen erregte – aber darüber war sie sich nicht im Klaren –, lag das allerdings weder an der schlichten Eleganz ihres kleinen Schwarzen, das ihr bis knapp zum Knie reichte, noch daran,
dass sie sich bei glanzvollen, aber geistlosen Ereignissen wie diesem so sichtlich unwohl fühlte. Sie war einfach eine Frau,
die Aufsehen erregte, und zwar immer schon. Als Erstes fiel den Leuten meist die verschwenderische Lockenpracht auf, die ihre
warmen, vor Intelligenz sprühenden grünen Augen umrahmte. Verstärkt wurde der erste positive Eindruck durch ihren gesunden,
sechsunddreißigjährigen Körper, der sich mit lässiger Anmut bewegte, und besiegelt schließlich durch den Umstand, dass sie
sich ihrer Reize nicht im Geringsten bewusst zu sein schien. Leider war sie immer auf die falschen Männer hereingefallen.
Den letzten dieser nichtswürdigen Exemplare hatte sie am Ende sogargeheiratet, ein Fehler, den sie kürzlich allerdings rückgängig gemacht hatte.
Sie betrat den großen Ausstellungssaal. Ein solches Stimmengewirr hallte hier von den Wänden wider, dass es unmöglich war,
in dem Getöse auch nur ein einziges Wort auszumachen. An die Akustik hatte man beim Bau des Museums anscheinend keinen Gedanken
verschwendet. Fetzen von Kammermusik drangen an ihr Ohr. Das rein weibliche Streichquartett, das abseits in einer Ecke platziert
war, führte energisch, aber so gut wie unhörbar die Bogen über seine Instrumente. Sie ging weiter, nickte den lächelnden Gesichtern
in der Menge flüchtig zu und kam vorbei an Lila Wallace’ unvermeidlichen Blumenarrangements und an der Nische, in der Andrea
della Robbias zauberhafte Madonna mit Kind aus blau und weiß glasiertem Terrakotta stand und anmutig über die Menschenmenge
wachte. Heute Abend hatte die Skulptur allerdings Gesellschaft bekommen, sie war nur eine von zahlreichen Darstellungen der
Jungfrau mit dem Jesuskind, die jetzt das Museum schmückten.
Die Ausstellungsstücke waren fast alle nur in Glasvitrinen zu bewundern, und schon mit einem flüchtigen Blick erkannte man,
wie unermesslich wertvoll viele dieser Stücke wohl waren. Sogar auf jemanden wie Tess, die alles andere als religiös war,
wirkten sie beeindruckend, ja sogar bewegend, und als sie am großen Treppenaufgang vorbei war und endlich den eigentlichen
Ausstellungssaal betrat, hatte sie Herzklopfen vor Aufregung und Vorfreude.
Zu sehen waren Alabaster-Retabeln aus Burgund, reich geschmückt mit Begebenheiten aus dem Leben des heiligen Martin. Dutzende
von Kruzifixen, die meisten aus massivem Gold, über und über mit Edelsteinen besetzt; ein Kreuz ausdem zwölften Jahrhundert bestand aus mehr als hundert kleinen Figuren, geschnitzt aus einem einzigen Walross-Stoßzahn. Zu
bewundern waren fein gearbeitete Marmorstatuetten und mit Schnitzereien geschmückte hölzerne Reliquienschreine; auch ihrer
eigentlichen Bestimmung beraubt, stellten diese Kästchen wundervolle Zeugnisse der meisterhaften Arbeit mittelalterlicher
Kunsthandwerker dar. Ein prachtvolles, mit einem Adler verziertes Lesepult aus Messing behauptete sich stolz neben einem beeindruckenden
Osterkerzenleuchter aus Spanien, an die zwei Meter hoch und reich bemalt, der sonst in den Gemächern des Papstes aufbewahrt
wurde.
Während sie sich die Ausstellungsstücke anschaute, musste Tess immer wieder gegen eine leise Verbitterung ankämpfen, die unwillkürlich
in ihr aufstieg. Die gezeigten Objekte waren von einer Qualität, auf die sie in ihren Jahren als Ausgräberin nie zu hoffen
gewagt hätte. Gewiss, es waren gute, an Herausforderungen keineswegs arme, in mancher Hinsicht sogar lohnende Jahre gewesen.
Sie hatte in der Welt herumreisen und sich mit ganz unterschiedlichen, faszinierenden Kulturen beschäftigen können. Einige
der von ihr ausgegrabenen Fundstücke waren in Museen rund um den Globus zu sehen, doch keines davon war bemerkenswert genug,
um etwa den Sackler-Flügel mit
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