Scriptum
mehr losließ. Die Sache soll sich vor mehreren hundert
Jahren ereignet haben. Es geht um einen jungen Priester, der ans Sterbebett eines alten Mannes gerufen wird, um ihm die Krankensalbung
zu erteilen und die Beichte abzunehmen. Der alte Mann gilt als einer der letzten überlebenden Templer. Der Priester geht zu
ihm, obwohl der Mann nicht zu seiner Gemeinde gehört und nicht um seinen Besuch gebeten hat, ja sich anfangs sogar weigert,
ihn zu empfangen. Schließlich gibt der Sterbende nach. Als der Priester wieder herauskam, war der Legende zufolge sein Haar
schneeweiß. Es heißt, von jenem Tag an habe er nie wieder gelächelt. Jahre später, kurz bevor er starb, gab er schließlich
die Wahrheit preis. Der Templer hatte ihm seine Geschichte erzählt und ihm einige Papiere gezeigt, etwas, das den Priester
tödlich erschreckt hatte. Das war alles. Die Geschichte verfolgte mich. Ständig geisterte mir das Bild dieses Priesters durch
den Kopf, dessen Haar weiß geworden war, nur weil er ein paar Minuten bei einem sterbenden alten Mann zugebracht hatte. Der
Versuch, herauszufinden, was es mit diesem Manuskript auf sich hatte und wo es sich befand, wurde für mich zu –»
… einer Obsession, dachte Tess.
«– einer Art Mission.» Vance lächelte schwach. Ihm war anzusehen, dass er im Geiste Bilder ferner, verborgener Bibliotheken heraufbeschwor.
«Ich weiß nicht, wie viele staubige Archive ich durchstöbert habe, in Museen, Kirchen und Klöstern, überall in Frankreich,
ja sogar jenseits der Pyrenäen in Nordspanien.» Er hielt inne und legte eine Hand auf die Papiere. «Und dann, eines Tages,
wurde ich fündig. In einer Templerburg.»
Einer Burg mit einer Inschrift am Portal. Tess schwindelte. Sie dachte an die lateinischen Worte, die sie aus seinem Mund
gehört hatte, dieselben Worte, die, wie Clive ihr erzählt hatte, in den Torsturz des Château de Blanchefort eingemeißelt waren.
Wieder fiel ihr Blick auf die Papiere. Es handelte sich offenbar um eine sehr alte Handschrift. «Sie haben tatsächlich das
Originalmanuskript gefunden?», vergewisserte sie sich, und zu ihrer eigenen Überraschung empfand sie selbst etwas von dem
Nervenkitzel, den Vance erlebt haben musste. Dann traf sie schlagartig die Erkenntnis. «Aber der Text ist verschlüsselt. Darum
brauchten Sie die Chiffriermaschine.»
Er nickte bedächtig. «Ja, es war frustrierend. Jahrelang hielt ich etwas in den Händen, wovon ich wusste, dass es wichtig
war. Ich hatte die richtigen Papiere, doch ich konnte sie nicht lesen. Einfache Substitutions- oder Transpositionscodes sind
hier nicht anwendbar; ich hatte mir schon gedacht, dass diese Männer sich etwas Raffinierteres hatten einfallen lassen. Ich
fand Hinweise darauf, dass die Templer Chiffriergeräte benutzt hatten, aber eine solche Maschine war nirgendwo aufzutreiben.
Die Situation schien wirklich hoffnungslos. Nachdem 1307 die Verfolgung begonnen hatte, war von den Besitztümern des Ordens
nichts geblieben. Doch dann kam mir das Schicksal zu Hilfe und förderte dieses kleine Juwel aus den verborgensten Archiven
des Vatikans zutage, wo es all die Jahre versteckt gewesen und so gut wie vergessen war.»
«Und damit können Sie das Manuskript tatsächlich lesen?»
Er klopfte auf den Papierstapel. «Wie die Tageszeitung.»
Eine unbändige Erregung überkam Tess, doch im nächstenMoment schalt sie sich selbst dafür. Dieser Mann hatte allem Anschein nach den Verstand verloren, und die jüngsten Vorfälle
ließen keinen Zweifel daran, dass er gefährlich war. Er mochte eine grandiose Entdeckung gemacht haben – eine Entdeckung,
von der Tess selbst nur träumen konnte –, doch sie durfte nicht vergessen, dass dafür unschuldiges Blut vergossen worden war. Sie musterte Vance, der wieder in seine
Gedanken versunken schien. «Was hoffen Sie zu entdecken?»
«Etwas, das seit allzu langer Zeit verschollen ist.» Seine Augen wurden schmal, sein Blick eindringlich. «Etwas, das alles
in die rechte Ordnung bringen wird.»
Etwas, das es wert ist, dafür zu töten, hätte Tess am liebsten hinzugefügt, doch sie verkniff sich die Bemerkung. Ihr fiel
der Aufsatz des französischen Historikers ein, den sie gelesen hatte. Darin wurde Vance’ Vermutung erwähnt, der Gründer des
Templerordens sei ein Katharer gewesen. Soeben hatte sie von Vance erfahren, dass er den Brief im Languedoc gefunden hatte,
jener Region, aus der die Familie des
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