Scriptum
zukam. Sofort ging sie hinter einer Vitrine
in Deckung, behielt ihn aber genau im Auge. Scheinbar völlig unbeteiligt und ohne Notiz von dem Chaos zu nehmen, das seine
drei Begleiter anrichteten, führte er sein Pferd zwischen den Reihen noch unversehrter Vitrinen hindurch.
Kaum zwei Meter von ihr entfernt, sie meinte den warmen Atem seines schnaubenden Pferdes beinahe zu spüren, machte der Ritter
unvermittelt Halt. Tess duckte sich noch tiefer, klammerte sich wie eine Ertrinkende an der Vitrine fest und versuchte, ihr
wild hämmerndes Herz zu beruhigen. Sie hob den Blick und sah den Ritter, Ehrfurcht gebietend in seinem Kettenpanzer und dem
weißen Umhang, der sich in den Glasscheiben um sie herum spiegelte. Er musterte eine ganz bestimmte Vitrine.
Es war die, die Tess sich angeschaut hatte, bevor Clive Edmondson sie ansprach.
Voller Entsetzen verfolgte Tess, wie der Ritter sein Schwert zog, hoch emporschwang und auf die Vitrine niederkrachen ließ,
die klirrend zerbarst. Hunderte von Glassplittern regneten neben Tess herab. Gelassen schob er das Schwert zurück in die Scheide,
bückte sich ein wenig und nahm das eigenartige Gerät, den mit Tasten, Rädchen und Hebeln versehenen Kasten, aus der Vitrine.
Dann hielt er ihn mit beiden Händen vor sich empor.
Tess wagte kaum zu atmen. Allen Überlebensinstinkten zum Trotz spürte sie das brennende Bedürfnis zu sehen, was genau hier
vor sich ging. Schließlich konnte sie sich nicht länger beherrschen und neigte sich ein wenig vor, um knapp am Rand der Vitrine
vorbeizuschauen.
Der Mann betrachtete den Kasten eine kurze Weile, ehrfürchtig,wie es schien, und murmelte dann halblaut etwas vor sich hin.
«Veritas vos libera–»
Hingerissen verfolgte Tess dieses offenbar äußerst private Ritual, als eine weitere Salve von Schüssen sie und den Ritter
jäh aus der Verzauberung aufschreckte, die sie beide umfangen hielt.
Er riss sein Pferd herum, und obwohl das Helmvisier seine Augen halb verdeckte, spürte Tess, wie sein Blick einen Moment lang
auf ihr ruhte. Ihr stockte das Herz, während sie wie erstarrt vor ihm kauerte. Das Pferd kam näher, direkt auf sie zu -
- und streifte knapp an ihr vorbei. Gleichzeitig hörte sie, wie der Mann den anderen Reitern zubrüllte: «Los, hauen wir ab!»
Tess richtete sich auf und sah, wie der hünenhafte Reiter, der als Erster geschossen hatte, in einer Ecke am großen Treppenaufgang
eine kleine Schar Menschen in Schach hielt. Sie erkannte den Erzbischof von New York, außerdem den Bürgermeister und seine
Gattin. Auf ein kurzes Nicken des Anführers hin trieb der Hüne sein Pferd mitten in die Traube verängstigter Gäste, packte
die sich wild wehrende Frau des Bürgermeisters und hob sie auf sein Pferd. Als er ihr den Lauf seiner Pistole an die Schläfe
drückte, hielt sie sofort still. Ihr Mund war zu einem lautlosen Schrei aufgerissen.
Hilflos, wütend und voller Angst beobachtete Tess, wie die vier Reiter sich in Richtung Ausgang entfernten. Der Anführer der
Ritter, der Einzige, wie ihr auffiel, ohne Pistole, war auch der Einzige, von dessen Sattelknauf kein prall gefüllter Sack
baumelte. Während die Reiter durch die Museumsgalerien davonsprengten, stand Tess auf und hastetedurch die Trümmerlandschaft, um ihre Mutter und ihre kleine Tochter zu suchen.
Die Ritter kamen durch die Museumstüren ins Freie gestürmt, hinein ins grelle Licht der Fernsehscheinwerfer. Schlagartig wurde
es stiller, obwohl weiter das Schluchzen und Stöhnen traumatisierter und verletzter Menschen zu hören war. Rings um den Museumseingang
erhoben sich laute Stimmen, hauptsächlich von Polizisten, die einander warnend zuriefen: «… Feuer nicht eröffnen!», «… eine Geisel!», «… nicht schießen!»
Dann jagten die vier Reiter die Treppe hinunter und entfernten sich in Richtung Fifth Avenue, wobei der Ritter mit der Geisel
die schützende Nachhut bildete. Zügig, aber ohne übertriebene Hast ritten sie davon, ohne sich von den näher kommenden Polizeisirenen
erkennbar aus der Ruhe bringen zu lassen. Wenig später waren sie verschwunden, gleichsam verschluckt von der schwarzen Finsternis
des Central Park.
KAPITEL 4
Sean Reilly stand am Rand der Museumstreppe, gerade außerhalb der schwarz-gelben Plastikbänder, mit denen der Tatort abgesperrt
war. Er fuhr sich mit der Hand durch das kurze braune Haar und schaute auf die Kreidesilhouette hinab. Hier hatte der enthauptete
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