SdG 04 - Die eisige Zeit
spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, blinzelte zum verschwimmenden, geschwungenen Himmel ihres Fellzelts empor und stieß einen langsamen, schmerzerfüllten Atemzug aus.
»Geister der Rhivi«, flüsterte sie, »holt mich jetzt, ich bitte euch. Bitte macht diesem Leben ein Ende. Jaghan, Iruth, Mendalan, S’ren Tahl, Pahryd, Neprool, Manek, Ibindur – ich nenne euch alle beim Namen, holt mich, ihr Geister der Rhivi …«
Das Rasseln ihres Atems, das störrische Pochen ihres Herzens … die Geister waren ihren Gebeten gegenüber taub. Mit einem leisen Wimmern setzte die Mhybe sich auf, griff nach ihren Kleidern.
Sie wankte hinaus ins dunstige Licht. Um sie herum erwachte das Lager der Rhivi. Von der einen Seite her hörte sie das Brüllen der Bhederin, spürte durch den Erdboden die Unruhe der gewaltigen Tiere, hörte dann die Rufe der jungen Stammesangehörigen, die von der Nachtwache bei den Herden zurückkehrten. Gestalten tauchten aus den nahe gelegenen Zelten auf, Stimmen ertönten, die mit leisem, rituellen Gesang die Morgendämmerung begrüßten.
Iruth met inal barku sen netral … ah ’rhitan! Iruth met inal …
Die Mhybe sang nicht. In ihr war keine Freude für einen weiteren Tag Leben.
»Schätzchen, ich habe genau das Richtige für dich.«
Beim Klang der Stimme drehte sie sich um. Der Daru namens Kruppe kam den Pfad entlang auf sie zugewatschelt; mit seinen dicklichen Händen umklammerte er eine kleine Holzschachtel.
Sie brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Vergib mir, wenn ich bei deinen Geschenken ein bisschen zögere. Die letzte Erfahrung …«
»Kruppe sieht durch den runzligen Schleier hindurch, meine Liebe. In allen Dingen. Daher ist Glaube seine mitternächtliche Herrin – eine getreue Helferin, deren liebende Berührung Kruppe in höchstem Maße schätzt. Ganz normale Handelsinteressen«, fuhr er fort, während er vor ihr stehen blieb, die Augen auf die Schachtel gerichtet, »können manchmal zu glücklichen, wenn auch unerwarteten Geschenken führen. Im Innern dieses bescheidenen Behältnisses wartet ein Schatz, den ich dir, meine Liebe, anbiete.«
»Ich habe keinen Bedarf an Schätzen, Kruppe, aber ich danke dir trotzdem.«
»Kruppe versichert dir, dass dies eine Geschichte ist, die es wirklich wert ist, erneut erzählt zu werden. Bei der Erweiterung des Netzwerks von Tunneln, die zu den berühmten, mit Gas gefüllten Kavernen unter dem herrlichen Darujhistan und von ihnen wegführen, wurden hier und dort aus dem Fels gehauene Höhlen gefunden, deren Wände noch immer die Spuren von zahllosen Geweihhacken aufwiesen. Auf besagten geriffelten Oberflächen waren ruhmreiche Szenen aus der tiefen Vergangenheit zu sehen. Sie waren mit Speichel, Holzkohle, Hämatit, Blut und Rotz und der Vermummte mag wissen womit noch gemalt, doch da war noch mehr. Sogar viel mehr. Sockel, die so behauen waren, dass sie eine Art primitiver Altäre bildeten, und auf diesen Altären lag – dies hier!«
Er schlug den Deckel des Kästchens zurück.
Zunächst glaubte die Mhybe eine Sammlung Feuersteinklingen zu erblicken, die auf merkwürdig verarbeiteten Reifen aus anscheinend dem gleichen störrischen Material ruhten. Dann wurden ihre Augen schmal.
»Ja«, flüsterte Kruppe. »So gearbeitet, als ob sie tatsächlich aus Feuerstein wären. Aber nein, sie sind aus Kupfer. Kalt gehämmert, das Erz grob aus den Adern im Fels gemeißelt, zwischen stampfenden Steinen flachgeklopft. Schicht um Schicht. Geformt und bearbeitet, um ein Erbe widerzuspiegeln.« Er hob den Kopf, und der Blick aus seinen kleinen Augen kreuzte sich mit dem der Mhybe. »Kruppe sieht den Schmerz, den dir deine Knochen bereiten, meine Liebe, und er ist traurig. Diese Kupferteile sind keine Werkzeuge, sondern Schmuckstücke, die am Körper getragen werden sollen – du wirst feststellen, dass die Klingen Klammern haben, so dass man sie an einem Lederriemen befestigen kann. Du wirst Armbänder und Fußkettchen finden, Armspangen und … äh, Halsbänder. Gegenstände wie diese haben die Kraft … deine Schmerzen zu lindern. Kupfer, das erste Geschenk der Götter.«
Verwirrt von ihrer eigenen Sentimentalität, wischte die Mhybe die Tränen weg, die ihre runzligen Wangen hinabrannen. »Ich danke dir, Freund Kruppe. Unser Stamm hat sich das Wissen um die heilenden Kräfte des Kupfers bewahrt. Leider hilft es nicht gegen das Alter …«
Die Augen des Daru blitzten auf. »Kruppes Geschichte ist noch nicht zu Ende, Schätzchen.
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