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SdG 04 - Die eisige Zeit

SdG 04 - Die eisige Zeit

Titel: SdG 04 - Die eisige Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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sein eines Auge konnte jede Einzelheit erkennen: die offenen Regale voller Folterwerkzeuge, die niedrigen Bettgestelle aus fleckigem Holz, das Bündel aus dunklen, steifen Lumpen vor einer Wand, und – menschliche Häute, die wie die Wandteppiche eines wahnsinnigen Künstlers die Wände bedeckten. Sie waren vollständig, bis hin zu Fingerspitzen und Nägeln, aufgespannt in Form grässlicher, übergroßer menschlicher Gestalten, die Gesichter flach und der raue Stein der Wände dort, wo einst die Augen gewesen waren. Nasenlöcher und Münder waren zugenäht, das Haar zu einer Seite gezogen und locker verknotet.
    Wogen des Abscheus brandeten über Toc hinweg; sie ließen ihn erschauern, raubten ihm die letzten Kräfte. Er wollte schreien, wollte seinem Entsetzen Ausdruck verleihen, doch er konnte nur keuchen. Zitternd zog er sich am Geländer hoch, starrte die sich windende Spirale der Stufen hinauf, begann höher zu steigen.
    Räume glitten an ihm vorbei, Szenen, die in grauer Ungewissheit verschwammen, während er die scheinbar endlose Treppe hinaufstieg. Er hatte kein Zeitgefühl mehr. Der Turm, der jetzt im Wind schwankte und an allen Ecken und Enden knirschte und ächzte, war zum Aufstieg seines ganzen Lebens geworden, war das, wozu er geboren worden war, die einzige Aufgabe eines Sterblichen. Kaltes Metall, Stein, schwach erleuchtete Räume, die auftauchten und wieder versanken wie kraftlose Sonnen, die vorüberzogen, das Vergehen von Aeonen, Zivilisationen, die geboren wurden und starben, und alles, was dazwischen lag, war nichts weiter als die Illusion von Ruhm.
    Er fieberte. Sein Geist stürzte sich in Abgründe, in einen nach dem anderen, taumelte immer tiefer in die Quelle des Wahnsinns, während sein Körper sich emporhangelte, Schritt um Schritt. Oh Vermummter, komm endlich und finde mich. Hol mich hier weg, aus den kranken Fängen dieses Gottes, beende diese schändliche Entwürdigung – wenn ich ihm schließlich gegenüberstehe, werde ich nichts sein -
    »Die Stufen sind zu Ende«, rief ihm eine alte, hohe zitternde Stimme zu. »Heb deinen Kopf, ich möchte dieses beängstigende Gesicht sehen. Du hast keine Kraft? Erlaube mir …«
    Ein Wille sickerte in Tocs Körper, die Lebenskraft eines Fremden, die jeden Muskel mit Gesundheit und Stärke erfüllte. Nichtsdestotrotz schmeckte diese Kraft widerlich und schal. Toc stöhnte, kämpfte dagegen an, doch sein Trotz verließ ihn. Während sein Atem wieder gleichmäßiger ging und sein Herzschlag sich beruhigte, hob er den Kopf. Er kniete auf dem letzten Absatz aus gehämmerter Bronze.
    Auf einem hölzernen Stuhl hockte zusammengekauert und verkrümmt eine vertrocknete Gestalt; die Augen des alten Mannes leuchteten flackernd, als wäre ihre Oberfläche nichts weiter als der dünne Überzug zweier Papierlaternen, fleckig und zerrissen. Der Pannionische Seher war ein Leichnam, doch dieser Leichnam wurde von einer Kreatur bewohnt und von ihr belebt – einem Wesen, das Toc als geisterhafte, vage menschenähnliche Ausdünstung von Macht wahrnehmen konnte.
    »Ah, jetzt kann ich es sehen«, sagte die Stimme, obwohl der Mund des Mannes sich nicht bewegte. »Tatsächlich, das ist nicht das Auge eines Menschen. Es ist wirklich das Auge eines Wolfs. Sehr außergewöhnlich. Es heißt, dass du nicht sprichst. Wirst du es jetzt tun?«
    »Wenn Ihr es wünscht«, sagte Toc. Seine Stimme, die er so lange nicht benutzt hatte, klang rau; es war selbst für ihn ein Schock.
    »Ich bin erfreut. Ich bin es so müde, mir selbst zuzuhören. Dein Akzent ist mir nicht vertraut. Du bist ziemlich sicher kein Bürger von Bastion.«
    »Ich bin Malazaner.«
    Der Leichnam knirschte, als er sich vorbeugte, die Augen leuchteten heller. »Tatsächlich. Ein Kind jenes weit entfernten, gewaltigen Imperiums. Doch du bist aus dem Süden gekommen, während meine Spione mich informiert haben, dass die Armee deiner Brüder und Schwestern von Fahl aus losmarschiert ist. Wie kommt es also, dass du dich so verirrt hast?«
    »Ich weiß nichts von dieser Armee, Seher«, erwiderte Toc. »Ich bin jetzt ein Tenescowri. Das ist alles, was zählt.«
    »Eine kühne Behauptung. Wie heißt du?«
    »Toc der Jüngere.«
    »Lass uns die Sache mit der malazanischen Armee einen Augenblick zurückstellen, ja? Der Süden ist bis vor kurzem ein Ort gewesen, von dem keine Gefahr für mein Reich ausgegangen ist. Aber das hat sich geändert. Ich bin verärgert über eine neue, hartnäckige Bedrohung. Diese … Seguleh …

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