SdG 05 - Der Tag des Sehers
hörten, wie die Tempeltüren sich quietschend öffneten.
»Oh!«, flüsterte Rath’Schattenthron. »Wer ist das?«
»Mein Freund Murillio.«
»Nein, Idiot – der andere!«
»Der mit den Schwertern, meint Ihr? Oh, nun ja, er arbeitet für den Vermummten.«
»Und weiß Rath’Vermummter davon?«
»Das fragt Ihr mich?«
»Nun, äh, ist er vorbeigekommen?«
»Nein.«
»Dieser hirnlose Idiot!«
Coll gab ein Brummen von sich. »Ist das eine Eigenschaft, die alle Eure Bekannten gemein haben?«
»Bis jetzt schon«, murmelte Rath’Schattenthron.
»Die beiden da«, sagte Coll, »was für Masken tragen sie unter ihren Kapuzen?«
»Ihr meint, ob ich sie erkenne? Natürlich erkenne ich sie. Der alte Mann ist Rath’Togg. Die noch ältere Frau ist Rath’Fanderay. Im Rat benutzen wir sie als Buchstützen – ich glaube, ich habe sie all die Jahre, die ich im Knecht war, nicht ein einziges Wort sagen gehört. Und was noch viel witziger ist, sie sind ein Liebespaar, das einander noch niemals berührt hat.«
»Wie soll das gehen?«
»Benutzt Eure Vorstellungskraft, Daru. Oh, sie werden hineingebeten! Was blubbert in diesem Kessel?«
»Kessel? Was für ein Kessel?«
»Seid still.«
Coll lächelte. »Nun, ich habe zu viel Spaß. Es ist Zeit, hineinzugehen.«
»Ich gehe mit Euch.«
»Nein, das tut Ihr nicht. Ich mag keine Spione.« Während er diese Worte aussprach, traf Colls Faust das Kinn des Priesters. Der Mann fiel um wie ein nasser Sack.
Die Schatten lösten sich langsam auf, machten flackerndem Fackellicht Platz.
Coll rieb sich die Knöchel, schritt dann zum Tempel hinüber.
Er schloss die Tür hinter sich. Murillio, der Krieger und die Gäste waren nirgends zu sehen. Er ging zum Eingang der Grabkammer. Eine der Türen stand ein bisschen offen. Coll stieß sie auf und trat hindurch.
Murillio saß unweit der Stelle, wo sie eine Bettstelle für die Mhybe vorbereitet hatten – die Begräbnisgrube blieb leer, trotz der ständigen Anweisungen des untoten Kriegers, die alte Frau hineinzulegen. Der schwertschwingende Diener des Vermummten stand den beiden maskierten Ratsmitgliedern gegenüber, zwischen ihnen befand sich die Grube. Niemand sagte etwas.
Coll trat zu Murillio. »Was ist geschehen?«, flüsterte er.
»Nichts. Es ist noch kein Wort gefallen, es sei denn, sie schwatzen in ihren Köpfen, aber das bezweifle ich.«
»Dann … warten sie also.«
»Sieht so aus. Der Abgrund soll uns verschlingen, sie sind schlimmer als Geier …«
Coll musterte seinen Freund mehrere Herzschläge lang, dann sagte er: »Murillio, ist dir klar, dass du auf einer Ecke vom Altar des Vermummten sitzt?«
Das Land jenseits der nördlichen Stadtmauer von Korall war eine bewaldete Parklandschaft; Lichtungen wurden durch von Unterholz durchsetzte Wäldchen getrennt, die seit mindestens drei Jahren nicht mehr durchforstet worden waren. Die Handelsstraße wand sich wie eine Schlange durch diese Parklandschaft, verlief gerade, als sie einen zweihundert Schritt breiten Todesstreifen durchquerte, und stieg dann zu einer schmalen Steinbrücke an, die sich direkt vor der Mauer über einen tiefen, trockenen Graben spannte. Das Tor war eine stabile Konstruktion, die Durchfahrt knapp so breit wie ein Wagen und mit herausragenden Strebepfeilern versehen. Die Torflügel waren mit Bronze verkleidet.
Leutnant Tippa blinzelte sich den Schweiß aus den Augen. Sie hatte Fahrig und seinen Trupp so dicht wie möglich herangebracht und lag nun flach am Rand eines überwucherten Holzfällerpfads in dreißig oder vierzig Schritt Höhe auf der nach Osten weisenden Seite des Berghangs. Koralls hohe Mauern lagen zu ihrer Rechten, südwestlich; der Todesstreifen befand sich genau gegenüber, die Parklandschaft zu ihrer Linken. Dichtgedrängte Reihen pannionischer Bekliten hatten sich auf dem Todesstreifen versammelt, wurden so aufgestellt, dass sie zum Berg blickten – und zu den Schützengräben, die nun von Dujek und sechstausend Soldaten aus seinem Heer gehalten wurden.
Der Sergeant neben ihr grunzte. »Da kommt was durch das Tor. Das ist eine Art Standarte, und diese Reiter … sitzen ziemlich protzig auf ihren Pferden …«
»Ein Septarch und seine Offiziere«, meinte Tippa zustimmend. »Und, Fahrig, hast du genauso viel gezählt wie ich?«
»Fünfundzwanzig-, dreißigtausend«, murmelte der Angesprochene und zerrte an seinem Schnurrbart.
»Aber wir sind oben – «
»Ja, nur sind diese Gräben und Tunnel nicht dafür gedacht,
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