SdG 05 - Der Tag des Sehers
Schreien lag nacktes Entsetzen -
Paran drehte sich um, ließ den Blick über die Szene auf der Brustwehr schweifen. Dreißig Schritt entfernt, an der äußersten Ecke, kauerte eine Gestalt, die der Hauptmann instinktiv als den Seher erkannte. Menschliche Haut, menschliches Fleisch hatten sich abgeschält, enthüllten einen Jaghut, nackt, umgeben von nebligen Wolken aus Eiskristallen. Der Seher umklammerte mit beiden Händen ein Ei von der Größe eines Knallers. An seiner Seite, riesig und missgestaltet, ein K’Chain Che’Malle – nein. Die Matrone. Was von ihr ausströmte, ließ gleichermaßen Grauen und Mitleid in Paran aufsteigen. Sie war ohne Verstand, ihrer Seele beraubt, von einem Schmerz durchdrungen, von dem er wusste, dass sie ihn noch nicht einmal spüren konnte – die einzige Barmherzigkeit, die noch blieb.
Zwei schwer gerüstete und bewaffnete K’ell-Jäger hatten ihre Mutter bewacht, jetzt jedoch rückten sie vor, die Waffen erhoben, tappten mit schweren Schritten über das Dach, als auf einer Treppe fünfzehn Schritt links von Paran zwei Gestalten auftauchten. Maskiert, von Kopf bis Fuß in Blut getaucht, schwang jede der beiden Gestalten zwei Schwerter; sie ließen einen Korridor hinter sich, der von toten Urdomen und Domänensern übersät war.
»Der Vermummte soll mich holen!«, fluchte der Schnelle Ben. »Das sind Seguleh!«
Doch Parans Aufmerksamkeit war schon wieder weitergewandert, er war blind für den Kampf, der sich entspann, als die K’ell-Jäger auf die Seguleh losgingen. Die Sturmwolke, die über ihren Köpfen so lange in die Höhe geragt hatte, stieg immer noch höher und löste sich auf, war fast verloren in der Dunkelheit. Etwas, wurde ihm mit einem Frösteln klar, kam näher.
»Hauptmann! Folgt mir!«
Der Schnelle Ben glitt an der niedrigen Mauer entlang, folgte ihrer Krümmung auf die Hafenseite zu.
Paran trottete hinter dem Magier her. An einer Stelle, an der sie freie Sicht auf den Hafen und die Bucht hatten, machten sie Halt.
Weit draußen in der Bucht explodierte das Eis entlang der Horizontlinie in weißen, speienden Wolken.
Das Wasser im Hafen war unter der dunklen, jetzt völlig stillen Luft glatt wie Glas geworden. Das Netz aus Seilen, das es überspannte – mit seinen Hütten, herabhängenden Leinen und verwelkten Leichnamen – zitterte plötzlich.
»Im Namen des Vermummten, was – «
»Pssst. Oh, beim Abgrund! Schaut!«
Und er schaute.
Die Wasseroberfläche des Hafens, die bisher glatt wie Glas gewesen war … bebte … wogte … wölbte sich empor.
Und floss dann auf unmögliche Weise nach allen Seiten davon.
Ein schwarzes, gewaltiges Etwas stieg aus den Fluten auf.
Das Meer wogte wild, ein Ring aus Schaum raste nach außen. Eine plötzliche, eiskalte Windböe hämmerte über die Brustwehr, ließ die Konstruktion schwanken, dann erzittern.
Fels, zerklüftet, vernarbt – ein ganzer verdammter Berg, beim Vermummten! – stieg aus dem Hafen auf, hob das riesige Netz mit in die Höhe.
Und der Berg wurde größer, stieg höher, und Dunkelheit strömte in Wogen aus ihm heraus.
»Sie haben Kurald Galain enthüllt!«, schrie der Schnelle Ben, um den brüllenden Wind zu übertönen. »Alle zusammen!«
Paran starrte das Gebilde an.
Mondbrut.
Stieg immer noch höher.
Rake hat die Festung versteckt - oh, beim Abgrund, und wie er sie versteckt hat!
In die Höhe steigend, während das Wasser in torkelnden Kaskaden von den zerklüfteten Seiten ins Meer stürzte, sich in Nebel verwandelte, als das künstliche Gebilde noch höher stieg.
Die Kluft. Ortnals Kluft – dieser Spalt -
»Seht doch!«, zischte der Schnelle Ben. »Diese Risse …«
Und jetzt erkannte Paran den Preis, den Rake für diesen Trick bezahlt hatte. Gewaltige Risse zogen sich über die Oberfläche von Mondbrut, Risse, aus denen noch immer Wasser strömte.
Noch höher.
Die Festung ragte jetzt schon zu zwei Dritteln aus dem Wasser.
Sie drehte sich langsam, und dadurch geriet hoch auf einer Seite ein Gesims ins Blickfeld -
Und dort stand eine einsame Gestalt.
Erinnerungen … sie sind fort. Haben Zehntausende von Seelen zurückgelassen. Stumme Seelen.
»Und nun kommt zu mir, denn ich werde Euch jetzt Euren Schmerz nehmen.«
»Du bist sterblich.«
»Ich bin sterblich.«
»Du kannst unseren Schmerz nicht tragen.«
»Ich kann.«
»Du kannst ihn nicht weitergeben – «
»Ich werde es tun.«
» Itkovian – «
»Euren Schmerz, T’lan Imass. Jetzt.«
Er stieg vor ihm auf,
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