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SdG 05 - Der Tag des Sehers

SdG 05 - Der Tag des Sehers

Titel: SdG 05 - Der Tag des Sehers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Erikson
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heranzukommen. Das war sein einziger Wunsch. An sie heranzukommen. Sie zu töten. Der Rest war Spreu, lästig, im Weg. Hindernisse auf dem Weg zu seinem Ziel.
    Hätte er sein eigenes Gesicht sehen können, er hätte es kaum erkannt. Geschwärzte Streifen zogen sich von seinen Augen und seinen bärtigen Wangen aus nach außen. Auch der Bart selbst war bernsteinfarben gestreift. Seine Augen hatten die Farbe von sonnenverbranntem Präriegras.
    Seine Miliz war jetzt hundert Köpfe stark, schweigende Gestalten, die wie Erweiterungen seines Willens waren. Die ihm bedingungslos folgten und ihn ehrfürchtig anstarrten. Ihre Gesichter leuchteten, wenn er den Blick auf sie richtete. Er wunderte sich nicht darüber, und er bemerkte auch nicht, dass das Leuchten, das er sah, eine Reflexion war, dass es die blasse, jedoch merkwürdig hitzige Ausstrahlung seiner Augen widerspiegelte.
    Grantl war zufrieden. Er gab all das zurück, was Stonny angetan worden war – sie kämpfte jetzt an der Seite seines Stellvertreters, des kleinen, drahtigen Lestari, und hielt das hintere Treppenhaus der Mietskaserne. Seit sie sich vor Stunden in dieses Gebäude zurückgezogen hatten, waren sie sich nur einmal kurz begegnet. Und diese Begegnung hatte ihn erschüttert, hatte ihm tief in seinem Innern wehgetan, und es war, als wäre er durch den Schock wachgerüttelt worden – als hätte seine Seele die ganze Zeit irgendwo in seinem Innern gehockt, verborgen, stumm, während eine unbekannte, unerbittliche Macht jetzt seine Glieder beherrschte, mit dem Blut dahinströmte, das durch seine Adern pulsierte. Sie war immer noch gebrochen; ihre forsche Art war förmlich weggerissen worden und hatte ein menschliches Gesicht enthüllt, auf schmerzhafte Weise verletzlich und tief verletzt.
    Diese Erkenntnis hatte in Grantl ein kaltes Verlangen wieder zum Leben erweckt. Sie war die Schuld, die abzutragen er erst angefangen hatte. Und was auch immer sie bei ihrer Begegnung erneut aus der Fassung gebracht hatte, nun, sie hatte zweifellos irgendwie die blanken Fänge und ausgefahrenen Klauen seines Verlangens erkannt. Eine angemessene Reaktion, die nicht beunruhigender war, als sie sein sollte.
    Das baufällige alte Daru-Mietshaus beherbergte nun einen Todessturm, peitschende Winde aus Wut, Entsetzen und Agonie, die durch jeden Gang wirbelten und tobten, in jeden Raum, ganz egal, wie klein er auch sein mochte. Grausam und ohne nachzulassen wütete er durch das Gebäude. Er glich bis hin zur allerletzten Kleinigkeit Grantls Gedankenwelt, der Welt im Innern seines Schädels.
    Es gab keine Widersprüche zwischen der Realität der äußeren Welt und jener seiner Seelenlandschaft – eine Tatsache, die jegliches Vorstellungsvermögen überstieg, die nur instinktiv fassbar war, aus dem Bauch heraus verstanden werden musste, und nicht einmal eine Hand voll seiner Gefolgsleute verspürten auch nur einen Hauch davon. Unter ihnen war der Lestari-Leutnant.
    Der Mann wusste, dass er einen Ort betreten hatte, wo es keine geistige Normalität mehr gab. Wusste irgendwie, dass er und der Rest der Miliz jetzt mehr im Kopf von Grantl existierten als in der wirklichen Welt. Sie kämpften mit Fähigkeiten, die sie nie zuvor besessen hatten. Sie wurden nicht müde. Sie riefen nicht, sie schrien nicht, ja, sie bellten sich noch nicht einmal Befehle oder Parolen zu. Es gab keinen Grund für Parolen – niemand brach zusammen, niemand wurde in die Flucht geschlagen. Jene, die starben, fielen dort, wo sie standen, ohne einen Laut von sich zu geben.
    Im Erdgeschoss stapelten sich die Leichen brusthoch in den Gängen. Manche Räume konnte man nicht einmal mehr betreten. Blut rann durch die Leichenberge wie ein roter Strom, der unter der Oberfläche des Landes verläuft und durch verborgene Kieslinsen, Sandschichten und vergrabene Felsblöcke sickert; hier, in diesem grässlichen Gebäude, sickerte er um Knochen und Fleisch und Rüstungen und Stiefel und Sandalen und Waffen und Helme herum. Stinkend wie eine Kloake, dickflüssig wie das, was im Graben des Feldschers dahinfließt.
    Die Angreifer taumelten schließlich rückwärts, zogen sich durch fast blockierte Treppenhäuser zurück, drängten sich aus den Fenstern. Draußen warteten noch Tausende, aber die Zurückweichenden verstopften die Zugänge. Ein Augenblick des Friedens senkte sich auf das Gebäude herab.
    Als der Lestari-Leutnant sich ein wenig schwindlig und schwankend auf den Weg zum Hauptkorridor machte, fand er dort Grantl.

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