SdG 05 - Der Tag des Sehers
mich raten. Sie verstecken sich in Tunneln unter den Straßen. Beschützt von einer Hand voll überlebender Gidrath, einer oder zwei Kompanien Eurer Grauen Schwerter, ein paar Capanthall des Fürsten. Ich nehme an, dass sich auch Fürst Arard dort unten versteckt. Es ist eine Schande. Wir suchen ihn schon so lange. Nun, die Suche nach den verborgenen Eingängen geht weiter. Wir werden sie finden. Capustan wird gesäubert werden. Ihr, Schild-Amboss, werdet diesen glorreichen Tag allerdings leider nicht mehr erleben.«
Itkovian musterte den jungen Mann, und er sah, was er nicht zu sehen erwartet hatte. »Erstes Kind«, sagte er. »In Euch ist Verzweiflung. Ich werde sie von Euch nehmen, junger Herr, und mit ihr Eure Last.«
Anaster zuckte zurück, als hätte er einen Hieb erhalten. Er zog die Knie an, kletterte auf die Sitzfläche des Throns. Sein Gesicht zuckte. Eine Hand schloss sich um den Griff des merkwürdigen Obsidian-Dolchs, den er im Gürtel trug, und zuckte dann weg, als wäre der Stein heiß.
Seine Mutter kreischte auf, packte den ausgestreckten Arm ihres Sohns. Mit einem wütenden Knurren machte er sich los. Sie sank auf den Fußboden, rollte sich zusammen.
»Ich bin nicht Euer Vater«, fuhr Itkovian fort. »Aber ich werde sein wie er. Lasst der Flut Eurer Verzweiflung freien Lauf, Erstes Kind.«
Der junge Mann starrte ihn mit zurückgezogenen Lippen zähnefletschend an. »Wer … wer seid Ihr?«, zischte er.
Hauptmann Norul trat vor. »Wir vergeben Euch Eure Unwissenheit, mein Herr«, sagte sie. »Er ist der Schild-Amboss. Fener kennt Kummer, so viel Kummer – mehr als er ertragen kann. Und so erwählt er ein menschliches Herz. Gepanzert. Eine sterbliche Seele, um das Leid der Welt auf sich zu nehmen. Den Schild-Amboss.
Diese Tage und Nächte waren Zeugen großen Leids und tiefer Scham – all das steht als klares Wissen in Euren Augen geschrieben, wie wir jetzt sehen. Ihr könnt Euch nicht selbst täuschen, mein Herr, nicht wahr?«
»Ihr habt es nie gekonnt«, sagte Itkovian. »Gebt mir Eure Verzweiflung, Erstes Kind. Ich bin bereit, sie zu empfangen.«
Anasters Jammerschrei hallte durch den Raum. Er kletterte noch höher, auf die hohe Rückenlehne des Throns, und schlang die Arme um den Körper.
Alle Augen waren auf ihn gerichtet.
Niemand rührte sich.
Das Erste Kind starrte Itkovian an. Seine Brust hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Dann schüttelte Anaster den Kopf. »Nein«, flüsterte er, »Ihr werdet meine … meine Verzweiflung nicht bekommen.«
Der Hauptmann stieß ein Zischen aus. »Dies ist ein Geschenk! Erstes Kind – «
»Nein!«
Itkovian schien in sich zusammenzusacken. Die Spitze seines Schwerts bewegte sich, senkte sich. Die Rekrutin trat näher an den Schild-Amboss heran, um ihn stützen zu können.
»Du kannst sie nicht haben! Du kannst sie nicht haben!«
Hauptmann Norul drehte sich zu Itkovian um, die Augen weit aufgerissen. »Herr, ich kann dies nicht gutheißen – «
Der Schild-Amboss schüttelte den Kopf, richtete sich langsam erneut auf. »Nein, ich verstehe. Das Erste Kind – in ihm ist nichts als Verzweiflung. Ohne sie …«
Ist er ein Nichts.
»Ich will, dass sie alle getötet werden«, schrie Anaster mit sich überschlagender Stimme. »Domänenser! Tötet sie alle!«
Vierzig Domänenser kamen zu beiden Seiten des Tischs herangestürmt.
Hauptmann Norul bellte ein Kommando. Hinter ihr ließ sich die vorderste Reihe wie ein Mann auf ein Knie sinken. Die zweite Reihe hob ihre Armbrüste. Vierundzwanzig Bolzen fetzten durch den Raum. Kein einziger ging fehl.
Von den an der Seite gelegenen Eingängen zu den Gästezimmern kamen noch mehr Bolzen.
Die vorderste Reihe hinter Itkovian stand auf und machte ihre Waffen bereit.
Nur sechs Domänenser standen noch. Gestalten – noch zuckend oder völlig reglos – bedeckten den Fußboden.
Die Tenescowri am Tisch flohen zur Tür hinter dem Thron.
Anaster selbst war der Erste, der sie erreichte, seine Mutter war nur einen Schritt hinter ihm.
Die Domänenser griffen Itkovian an.
Ich bin noch nicht am Ende.
Seine Klinge blitzte auf. Ein behelmter Kopf sprang von den Schultern. Ein Rückhandhieb zerfetzte Kettenglieder und riss einem weiteren Domänenser den Bauch tief auf.
Wieder schnalzten die Armbrüste.
Und dann standen die Grauen Schwerter ohne Gegner da.
Der Schild-Amboss senkte seine Waffe. »Hauptmann«, sagte er nach einem Augenblick. »Lasst den Leichnam des Fürsten holen. Und die Haut da
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