SdG 05 - Der Tag des Sehers
für den Exodus durch die Überreste des Süd- und des Westtors.
Einige wenige Kundschafter der Weißgesichter hatten sich auf das Palastgelände vorgewagt und waren nahe genug herangekommen, um festzustellen, dass es noch Verteidiger gab, aber sie hatten nicht offiziell Kontakt aufgenommen.
Velbara, die Rekrutin, stand neben Itkovian, doch sie war schon längst keine Rekrutin mehr. Ihr Waffentraining war aus der Verzweiflung geboren worden. Sie hatte die wichtigste Lektion gelernt – am Leben zu bleiben –, und diese Lektion war zur lenkenden Macht hinter allen anderen Fähigkeiten geworden, die sie sich anschließend in der Hitze des Gefechts angeeignet hatte. Genau wie alle anderen capanischen Neulinge in der Kompanie – die jetzt den größten Teil der Überlebenden unter dem Kommando des Schild-Ambosses stellten – hatte sie sich ihren Platz als Soldatin der Grauen Schwerter verdient.
Itkovian brach das lange Schweigen. »Wir räumen jetzt den Großen Saal.«
»Ja, Herr.«
»Die Ehre des Fürsten ist wiederhergestellt. Wir müssen aufbrechen – beim Knecht gibt es noch etwas zu erledigen.«
»Können wir ihn denn überhaupt erreichen, Herr, selbst jetzt? Wir müssen einen Barghast-Kriegshäuptling finden.«
»Sie werden uns nicht mit den Feinden verwechseln, Soldatin. In der Stadt liegen so viele tote Brüder und Schwestern, dass sie unsere Farben gut genug kennen. Und da die Pannionier – abgesehen von denen auf dem Jelarkan-Platz – von den Barghast nach Westen auf die Ebene getrieben wurden, werden wir auf unserem Weg kaum mit Widerstand rechnen müssen.«
»Ja, Herr.«
Itkovian richtete seine Aufmerksamkeit ein letztes Mal auf die zerstörte Schanze auf dem Todesstreifen im Osten. Zwei Soldaten der Gidrath unten im Großen Saal kamen aus jener Festung, hatten ursprünglich zu den ebenso tollkühnen wie vortrefflichen Verteidigern gezählt, und einer von ihnen hatte vor kurzem Wunden erlitten, die sich höchstwahrscheinlich als tödlich erweisen würden. Der andere, ein Bulle von einem Mann, der vor Rath’Vermummter gekniet hatte, schien nicht mehr schlafen zu können. In den vier Tagen und Nächten, seit sie den Großen Saal zurückerobert hatten, war er während seiner Ruheperioden unruhig auf und ab gegangen, ohne seiner Umgebung auch nur die geringste Beachtung zu schenken. War immer nur auf und ab gegangen, hatte mit dunklen, fiebrig brennenden Augen vor sich hin gemurmelt. Er und sein sterbender Kamerad waren, wie Itkovian vermutete, die einzigen noch lebenden Gidrath außerhalb des Knechts.
Ein Gidrath, der sich dem Vermummten verschworen hat, doch er befolgt meine Befehle, ohne zu zögern. Schlichter Eigennutz, könnte man fraglos schließen. Schließlich wäre es nur sinnvoll, angesichts der gegenwärtigen Extremsituation alle Gedanken an Rivalität aufzugeben. Doch … ich stelle fest, dass ich meinen eigenen Erklärungen nicht traue.
Trotz seiner Erschöpfung hatte der Schild-Amboss eine zunehmende Unruhe verspürt. Irgendetwas war geschehen. Irgendwo. Und wie zur Antwort hatte er plötzlich das Gefühl gehabt, als ströme sein Blut aus ihm heraus, als leerten sich seine Adern, sein Herz, als flösse alles durch eine Wunde, die er erst noch finden musste. Und seither fühlte er sich … unvollständig.
Als hätte ich meinen Glauben preisgegeben. Doch das habe ich nicht getan. »Die Leere des verlorenen Glaubens ist mit deinem angeschwollenen Selbst gefüllt.« Worte eines schon lange toten Destriant. Man gibt nicht auf, man ersetzt. Man ersetzt Glaube durch Zweifel, durch Skeptizismus, durch Ablehnung. Ich habe nichts aufgegeben. Ich habe keine Horde von Worten, die meine inneren Verteidigungsstellungen bevölkert. Tatsächlich bin ich auf Schweigen reduziert. Geleert … als würde ich Erneuerung erwarten …
Er riss sich zusammen. »Dieser Wind heult zu laut in meinen Ohren«, sagte er, den Blick noch immer auf die Ostschanze gerichtet. »Kommt, Soldatin, gehen wir nach unten.«
Einhundertzwölf Soldaten und Soldatinnen waren noch kampffähig, wenn auch niemand unverletzt war. Siebzehn Graue Schwerter lagen tot oder im Sterben entlang einer Wand. Die Luft stank nach Schweiß, nach Urin und nach verwesendem Fleisch. Die Eingänge zum Großen Saal waren von schwarz geronnenem Blut eingefasst, das von den Bodenfliesen abgekratzt worden war, damit niemand darauf ausrutschte. Der längst vergessene Architekt, der diesen Raum entworfen hatte, wäre wahrscheinlich entsetzt
Weitere Kostenlose Bücher