SdG 05 - Der Tag des Sehers
gewesen, wenn er gesehen hätte, was aus ihm geworden war. Statt in edler Schönheit zu schwelgen, bot er nun einen albtraumhaften Anblick.
Auf dem Thron saß Fürst Jelarkan; die Haut war ihm grob wieder auf seinen halb verzehrten Körper aufgenäht worden, doch ihm fehlten die Augen, und die Zähne waren in einem Grinsen gebleckt, das umso breiter wurde, je mehr die Lippen eintrockneten und zurückschrumpften. Das breiter werdende Lächeln des Todes, ein höchst poetisches Entsetzen, durchaus würdig, in dem, was aus dem Saal geworden war, Hof zu halten. Der junge Fürst, der sein Volk geliebt hatte, teilte nun dessen Schicksal.
Es war Zeit zu gehen. Itkovian stand in der Nähe des Haupteingangs und musterte, was noch von seinen Grauen Schwertern übrig war. Im Gegenzug blickten sie ihn an, reglos, mit steinernen Augen. Zu seiner Linken hielten zwei capanische Rekrutinnen die Zügel der beiden Schlachtrosse, die ihnen noch geblieben waren. Der einsame Gidrath – sein Kamerad war vor wenigen Augenblicken gestorben – lief mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern vor der Wand hinter den angetretenen Söldnern auf und ab. Er hielt in jeder Hand ein zerschrammtes Langschwert; das in seiner Linken war von einem wilden Hieb verbogen, der vor zwei Nächten eine Marmorsäule getroffen hatte.
Der Schild-Amboss hatte sich an seine Soldaten und Soldatinnen wenden wollen, und wenn auch nur, um den Anstand zu wahren, jetzt jedoch, da er ihnen gegenüberstand und seinen Blick über ihre Gesichter gleiten ließ, stellte er fest, dass er nicht mehr die richtigen Worte fand. Zumindest fielen ihm keine ein, die das benennen konnten, was sie miteinander verband, und auch keine, die dem merkwürdigen kalten Stolz gerecht geworden wären, den er in diesem Augenblick empfand. Schließlich zog er sein Schwert, überprüfte die Riemen, die seinen Schildarm unterstützten, und wandte sich dem Haupteingang zu.
Im Korridor dahinter waren die Leichen auf einem schmalen Streifen beiseite geschafft worden, um zwischen den aufgestapelten Kadavern hindurch einen Weg zu den Außentüren zu bahnen.
Itkovian ging den grausigen Gang entlang, trat zwischen die schiefen, zerschlagenen Türflügel und hinaus ins Sonnenlicht.
Nach jedem ihrer vielen Angriffe hatten die Pannionier ihre gefallenen Kameraden von den breiten, flachen Stufen des Zugangs weggeräumt, sie auf den Hof geschafft und dort wahllos aufeinander gestapelt – einschließlich derjenigen, die noch am Leben gewesen und erst später an ihren Wunden gestorben oder erstickt waren.
Itkovian blieb am oberen Ende der Stufen stehen. Noch immer drangen Kampfgeräusche aus der Gegend des nach Fürst Jelarkan benannten Platzes herüber, aber das war alles, was er hörte. Stille hüllte die Szene vor ihm ein, eine Stille, die auf einem Platz, der einmal der Vorplatz eines belebten Palasts gewesen war, so unpassend wirkte, dass Itkovian zum ersten Mal, seit die Belagerung begonnen hatte, zutiefst erschüttert war.
Teurer Fener, hilf mir, in all dem hier einen Sinn zu erkennen.
Er stieg die Stufen hinunter, deren Steine sich unter seinen Stiefeln weich und klebrig anfühlten. Seine Kompanie folgte ihm, ohne dass ein einziges Wort gesprochen wurde.
Sie schritten durch das zerschmetterte Tor, begannen, sich auf der Rampe und dann in der Straße dahinter einen Weg zwischen den Leichen zu suchen. Auch wenn die Lebenden ihnen keine Schwierigkeiten machten, würde dies dennoch eine lange Reise werden. Und es würde auch keine Reise ohne Kampf sein. Was jetzt über sie herfiel, war das, was ihre Augen sahen, ihre Nasen rochen und was sie unter ihren Schuhsohlen spüren konnten.
Ein Kampf, in dem Schilde und Rüstungen nutzlos waren, in dem wirbelnde Schwerter nichts brachten. Die einzige Verteidigung war eine Seele, die so abgehärtet war, dass es weit über jede Art von Menschsein hinausging, und für Itkovian war dieser Preis zu hoch. Ich bin der Schild-Amboss. Ich gebe mich dem hin, was vor mir liegt. Hier ist ein Kummer entfesselt worden und nun verloren, der dicker ist als der Rauch, der in der leblosen Luft wirbelt und wogt. Eine Stadt ist getötet worden. Selbst die Überlebenden, die in den Tunneln unter den Straßen hocken … Fener soll mich holen, es wäre besser, sie kämen nie wieder herauf, um das hier zu erblicken.
Ihr Weg führte sie zwischen den Friedhöfen hindurch. Itkovian betrachtete den Ort, wo er und seine Soldaten sich verteidigt hatten. Hier sah es genauso aus
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