SdG 06 - Der Krieg der Schwestern
die sie schließlich selbst zu Akolythen werden ließen. Doch die Mehrzahl der Kinder hatte einen anderen Verdacht. Sie hatten Geschichten gehört oder sogar mit eigenen Augen beobachtet, wie gelegentlich verhüllte Gestalten von der Rückseite der Tempel gekommen waren und sich mit einem abgedeckten Karren kleine Gässchen entlanggeschlängelt hatten, unterwegs zu den von Krabben wimmelnden Fluttümpeln östlich der Stadt – Teiche, die nicht so tief waren, dass man den Schimmer kleiner, abgenagter Knochen auf ihrem Grund nicht hätte sehen können.
In einem waren sie sich alle einig. Der Hunger der Tempel war unstillbar.
Egal, ob optimistisch oder pessimistisch – die Kinder auf den Straßen von Ehrlitan taten alles, um den Jägern mit ihren Netzen und Schlingen zu entkommen. Man konnte sich durchschlagen, eine Art von Freiheit gewinnen, so bitter sie auch sein mochte.
Lostara war sieben Jahre alt gewesen, als sie vom Netz eines Akolythen auf die schmierigen Pflastersteine gerissen wurde. Die umstehenden Bürger achteten nicht auf ihre Schreie, traten stattdessen beiseite, als der schweigende Priester seine Beute zum Tempel zerrte. Teilnahmslose Blicke kreuzten sich hin und wieder auf dieser schrecklichen Reise mit den ihren, und diese Blicke würde Lostara niemals vergessen.
Rashan hatte sich als weniger blutrünstig als die anderen Kulte erwiesen, was die Jagd auf Kinder anging. Sie hatte sich inmitten einer Hand voll Neuankömmlinge wiedergefunden, die alle mit Aufgaben der Instandhaltung des Tempels betraut wurden, anscheinend dazu bestimmt, ein Leben lang niedere Dienste verrichten zu müssen. Die Plackerei dauerte an, bis sie neun war, als Lostara aus Gründen, von denen sie keine Ahnung hatte, auserwählt wurde, um im Schattentanz ausgebildet zu werden. Sie hatte gelegentlich einen kurzen Blick auf die Tanzenden erhascht – eine sich verbergende und geheimnistuerische Gruppe von Männern und Frauen, für die Anbetung in einem kunstvollen, komplizierten Tanz bestand. Ihr einziges Publikum waren Priester und Priesterinnen – die jedoch niemals die Tanzenden ansahen, sondern nur deren Schatten.
Du bist nichts, Kind. Keine Tänzerin. Dein Körper steht in Rashans Diensten, und Rashan ist die Manifestation des Schattens in dieser Sphäre, das Ziehen der Dunkelheit zum Licht. Wenn du tanzt, sieht man nicht dir zu. Man sieht dem Schatten zu, den dein Körper malt. Der Schatten ist der Tänzer, Lostara Yil. Nicht du.
Jahre der Disziplin mit gliederstreckenden Übungen, die jedes Gelenk lockerten, das Rückgrat in die Länge zogen, es den Schattenwerfenden erlaubten, mit gleitenden Bewegungen förmlich dahinzufließen – und alles für nichts.
Die Welt außerhalb der hohen Tempelmauern hatte sich verändert. Ereignisse, von denen Lostara nichts gewusst hatte, hatten systematisch ihre ganze Zivilisation zerschmettert. Das malazanische Imperium hatte seine Invasion begonnen. Städte fielen. Fremde Schiffe belegten den Hafen von Ehrlitan mit einer Blockade.
Dem Rashan-Kult blieben die Säuberungen durch die neuen, harten Herren des Reichs der Sieben Städte erspart, denn er wurde als Religion betrachtet. Anderen Tempeln erging es weniger gut. Sie erinnerte sich, wie sie Rauch am Himmel über Ehrlitan gesehen und sich gefragt hatte, wo er wohl herkam, und nachts wurde sie von schrecklichen Geräuschen geweckt, die vom Chaos in den Straßen kündeten.
Lostara war eine mittelmäßige Schattenwerferin. Ihr Schatten schien einen eigenen Willen zu haben und war ein widerspenstiger, zögerlicher Partner während der Ausbildung. Sie fragte sich nicht, ob sie glücklich war oder nicht. Rashans leerer Thron zog ihren Glauben nicht an, wie bei den anderen Studenten. Sie lebte, doch es war ein blindes Leben. Weder kreisförmig noch geradlinig, denn in ihren Gedanken war überhaupt keine Bewegung, und der einzige Fortschritt maß sich daran, wie sie mit den Übungen vorankam, die ihr aufgezwungen wurden.
Die Zerstörung des Kults kam plötzlich und unerwartet – und sie erfolgte von innen.
Sie erinnerte sich an die Nacht, in der alles begonnen hatte. Im Tempel hatte große Aufregung geherrscht. Ein Hohepriester aus einer anderen Stadt war zu Besuch gekommen. War gekommen, um mit Meister Bidithal über Angelegenheiten von höchster Bedeutung zu sprechen. Zu Ehren des Fremden würde ein Tanz stattfinden, zu dem Lostara und die anderen Jungen und Mädchen, die mit ihr zusammen ausgebildet wurden, eine
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