SdG 06 - Der Krieg der Schwestern
Kettenglieder waren groß und kräftig, schon mit dem Gedanken an die Kraft der Teblor geschmiedet. Aber an der Unterseite des Baumstamms hatte das Holz zu faulen begonnen.
Mit Hilfe der Pfeilspitze bohrte er in dem vom Abwasser aufgeweichten Holz herum.
Bairoth hatte ihn verraten, hatte die Uryd verraten. Sein letzter Akt des Widerstands hatte nichts mit Mut zu tun gehabt. Nein, ganz im Gegenteil. Sie hatten Feinde der Teblor entdeckt. Jäger, die Trophäen von den Teblor sammelten. Das war etwas, das die Krieger aller Stämme erfahren mussten, und diese Nachricht zu überbringen, war jetzt Karsas einzige Aufgabe.
Er war kein Sunyd, das würden die Tiefländer schon allzu bald entdecken.
Das faulige Wasser hatte die Höhlung ausgefüllt. Karsa grub die voll gesogene, matschige Masse aus, so weit er mit der Pfeilspitze kam. Dann wandte er sich dem zweiten Beschlagteil zu. Er würde sich zuerst um den Eisenstab kümmern, der seine Fußketten hielt.
Es gab keine Möglichkeit festzustellen, ob draußen Tag oder Nacht war. Gelegentlich hörte er schwere Schritte auf dem Bretterboden über sich, doch sie kamen zu unregelmäßig, als dass sie auf einen festgelegten Zeitablauf hätten hinweisen können. Karsa arbeitete unaufhörlich, lauschte dabei auf das Husten und Stöhnen der Tiefländer, die ein Stück von ihm entfernt an den Baumstamm gekettet waren. Er konnte sich nicht vorstellen, was diese traurigen Kinder getan haben mussten, um auf diese Weise von ihren Verwandten bestraft zu werden. Die härteste Strafe bei den Teblor bestand in Verbannung, und sie wurde nur über solche Stammesmitglieder verhängt, die absichtlich das Überleben des Dorfes gefährdet hatten – Taten, die von Sorglosigkeit bis zum Mord an Verwandten reichten. Verbannung führte normalerweise zum Tode, doch das kam daher, dass der Geist der Bestraften in der Einsamkeit regelrecht verhungerte. Jemanden zu foltern war nicht die Art der Teblor, genauso wenig, wie jemanden lange einzusperren.
Natürlich, dachte er dann, könnte es auch sein, dass diese Tiefländer krank waren, weil ihr Geist starb. In den alten Legenden gab es Passagen, die andeuteten, dass die Teblor einst Sklaven besessen hatten – das Wort, das Konzept war ihm bekannt. Der Besitz eines anderen denkenden Wesens, mit dem man tun konnte, was man wollte. Der Geist eines Sklaven musste einfach verhungern.
Karsa hatte nicht vor, zu verhungern. Urugals Schatten schützte seinen Geist.
Er steckte die Pfeilspitze in den Gürtel, drückte den Rücken gegen die Schräge, stellte die Füße rechts und links neben dem Beschlag auf den Baumstamm und streckte langsam die Beine durch. Die Kette straffte sich. Das abgeflachte Stück auf der Unterseite des Baumstamms wurde mit einem gleichmäßigen splitternden, mahlenden Geräusch in das Holz gezogen.
Die Schellen gruben sich in seine lederumwickelten Knöchel.
Er begann den Druck zu verstärken. Ein kräftiges Knirschen ertönte, und dann rührte sich der Flansch nicht mehr. Karsa entspannte sich langsam. Ein Tritt ließ die Eisenstange auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kommen. Nachdem er sich ein Weilchen ausgeruht hatte, versuchte er es ein zweites Mal.
Nach einem Dutzend Versuchen hatte er es geschafft, den Eisenstab drei Fingerspannen weiter zu ziehen, als er am Anfang gewesen war. Die Kanten des Flanschs waren von ihrem Kampf gegen das Holz schon ganz verbogen. Karsas Beinlinge waren durchgescheuert, und Blut glänzte auf seinen Fesseln.
Er legte den Kopf nach hinten auf den feuchten Lehm; seine Beine zitterten.
Von oben erklangen noch mehr Schritte, dann wurde die Falltür geöffnet. Das Licht einer Laterne stieg die Treppe herab, und in ihrem Schein sah Karsa den namenlosen Wächter.
»Uryd«, rief er. »Atmest du noch?«
»Komm näher«, forderte Karsa ihn mit leiser Stimme heraus, »und ich zeige dir, wie gut ich mich erholt habe.«
Der Tiefländer lachte. »Mir scheint, Meister Silgar hatte Recht. Es wird wohl einige Anstrengung erfordern, deinen Geist zu brechen.« Der Wächter blieb auf halber Höhe der Treppe stehen. »Deine Verwandten, die Sunyd, werden in ein, zwei Tagen zurückkehren.«
»Ich habe keine Verwandten, die sich in ein Leben als Sklaven fügen würden.«
»Das ist merkwürdig, denn genau das hast du getan – sonst hättest du es mittlerweile geschafft, dich umzubringen.«
»Du glaubst, ich bin ein Sklave, weil ich hier angekettet bin? Nun, dann komm doch ein bisschen näher,
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